Buch über Geisteswissenschaften: Prozeduren verstehen

Stecken die Geisteswissenschaften in der Krise? Steffen Martus und Carlos Spoerhase fragen grundlegend, was Geisteswissenschaften eigentlich ausmacht.

Sechs Männer an einem Tisch

FU Berlin, 1959. So intim versunken geht es in den Seminaren eher nicht mehr zu Foto: ullstein bild

Der Status der Geisteswissenschaften heute ist umstritten. Manche Politiker halten sie für unnötig und präferieren technische Fächer, statt Germanisten und Philosophinnen brauche man eher Physikerinnen, Ingenieurinnen oder Informatiker. Unserer Gesellschaft sieht man das an, mitunter scheint sie ihren ideellen Kompass verloren zu haben. Die Humanwissenschaften, die hier helfen könnten, haben augenscheinlich an Einfluss verloren.

Deshalb von einer „Krise der Geisteswissenschaften“ zu sprechen, ist dennoch recht pauschal. Gemeint ist eine ganze Branche von Forschungsdisziplinen, die an einigen Universitäten tatsächlich von Abbauplänen bedroht sein mögen, an anderen jedoch hervorragend gedeihen mit hohen Studierenden- und Absolventenzahlen.

Die Germanisten Steffen Martus und Carlos Spoerhase konstatieren in ihrem Buch „Geistesarbeit“, dass die Humanities sich heute stark ausdifferenziert haben und insgesamt ein ziemlich unübersichtliches Handlungsfeld darstellen. Ihr Ansatz ist daher, einmal grundlegend zu fragen, was Geisteswissenschaften eigentlich ausmacht, was Forschende in diesem Bereich eigentlich tun und wie die damit verbundenen Praxisformen und -prozeduren aussehen.

Steffen Martus, Carlos Spoerhase: „Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften“. Suhrkamp, Berlin 2022, 658 Seiten, 30 Euro

Ohne großartig zu werten, analysieren Martus/Spoerhase also erfrischend nüchtern, welche Regeln und Normen im akademischen Betrieb gelten, wie Wissenschaftler sich ihre Reputation erarbeiten oder wie Theoriebildung vor sich geht und den Transfer in die internationale Forschungsgemeinschaft schafft. Auch praktische Fragen des Verfassens von Seminararbeiten, der Kooperation in Teams, des Exzerpierens und Publizierens geraten systematisch in den Blick.

Zwei sehr unterschiedliche Protagonisten

Als Ausgangsbasis für ihre Untersuchungen und Befunde diente Martus/Spoerhase eine intensive Archivrecherche. In deren Zentrum standen vor allem zwei Protagonisten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: zum einen Peter Szondi, ehemaliger KZ-Insasse, genialischer Interpret, wegweisender Komparatist und trotz seines frühen Todes und daher schmalen Werkes bis heute international rezipierter Theo­retiker, sein Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Zum anderen Friedrich Sengle, in der NS-Zeit Mitläufer, später Verfasser der dreibändigen, monumentalphilologischen „Biedermeierzeit“, klassischer Ordinarius, versierter Netzwerker, Wissenschaftspolitiker und -organisator. Er war involviert in bedeutende germanistische Projekte, etwa die „Deutsche Vierteljahrsschrift“ und das „Internationale Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur“. Seinen Nachlass bewahrt das Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf.

An Szondis Archivunterlagen zeichnen Martus/Spoerhase minutiös die Entwicklung seines Werks und seiner gedanklichen Entwicklung nach. Ohne auf inhaltliche Implikationen einzugehen, interessieren sie sich eher dafür, wie hier exemplarisch eine wissenschaftliche Persönlichkeit entsteht.

Sie zeigen, dass gedankliche Vorstufen im Entwicklungsgang durch verschiedene Publikationsformen (Vortrag, Essay, Buchveröffentlichung) prägnante Änderungen erfahren, und untersuchen, welche Lesefrüchte in der finalen Interpretation Berücksichtigung finden oder aber wegfallen.

Ein vorurteilsfreies Bild

Der umfangreichen institutionellen Korrespondenz Friedrich Sengles entnehmen Martus/Spoerhase dagegen Aspekte der akademischen Selbstorganisation. Gegenstandsbereiche wie „Delegieren“ und „Zuarbeiten“ lassen sich hier veranschaulichen, da Sengle häufig seine Assistenten mit spezifischen Leseaufträgen und Exzerpten betraute oder etwa Doktorandinnen und Doktoranden auf Themen ansetzte, die seiner Arbeit an der „Biedermeierzeit“ zugutekamen.

Es bietet sich ein umfassendes, vorurteilsfreies Bild auf diverse Aspekte des geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Nicht umsonst weisen Martus/Spoerhase ihr Werk im Untertitel als eine „Praxeologie“ aus, die sich also auf Prozesse des bewussten oder unbewussten Handelns in diesem Rahmen erstreckt.

Die Zusammenschau verblüfft durch die Vielfalt der Prozeduren, die im geisteswissenschaftlichen Feld tagtäglich in Anwendung gelangen, über vieles, was die beiden Autoren luzide beschreiben, werden sich akademische Praktiker gar keine Gedanken machen. Umso erkenntnisstiftender erscheint dieser Zugriff, der generelle geisteswissenschaftliche Praktiken illustriert, die für Kunstgeschichte und Philosophie, Romanistik oder historische Forschung gleichermaßen Geltung besitzen.

Martus/Spoerhases Studie ist flüssig und lesbar geschrieben. Sie eröffnet damit nicht nur fertigen Akademikern, sondern auch Studierenden und allgemein Interessierten einen Einblick in die Welt humanwissenschaftlichen Arbeitens. Manche Erstsemester, die sich beim Eintritt in den Wissenschaftsbetrieb einem riesigen, undurchschaubaren Block gegenübersehen, finden hier die tatsächliche Praxis auf ein menschliches Maß zurückgestutzt.

Es sind alles beobachtbare Prozesse und Strukturen. Martus/Spoerhase haben in erfreulicher Weise zur Entmystizifizierung und Handhabbarkeit des Numinosums Geisteswissenschaft beigetragen.

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