: „Es ist eine Fantasie in meinem Kopf“
Mit seinem Album „Chávez Ravine“ hat der Slide-Gitarrist Ry Cooder einem verschwundenen mexikanischen Viertel in Los Angeles ein Denkmal gesetzt. Ein Gespräch über Globalisierung und Nostalgie, die Pachuco-Kultur der Fünfzigerjahre und die Bedeutung der Latino-Einwanderung in den USA
INTERVIEW DANIEL BAX
taz: Herr Cooder, Ihr neues Album „Chávez Ravine“ ist einem Ort gewidmet, den es so nicht mehr gibt: einem mexikanischen Viertel in Los Angeles, das in den 50ern wegsaniert wurde. Was hat Sie am Los Angeles der Fünfzigerjahre und an dessen Musik so fasziniert?
Ry Cooder: Ich bin in Santa Monica aufgewachsen, das war damals ein sehr langweiliger und banaler Ort. Durch die Klänge, die ich im Radio hörte, wusste ich aber, dass es irgendwo da draußen am Ende der Straße eine andere Welt geben musste. Da gab es Ansagen wie: „Kommen Sie am Samstag zur Riverside Ranch Show, zum Boxkampf.“ Ich fand das faszinierend und wollte immer dorthin, um es mit eigenen Augen sehen. Mein Vater hat natürlich gesagt: Nein, das ist zu weit weg, außerdem lassen sie in solche Bars keine Kinder rein.
Hatten Sie später Zugang zu dieser Szene?
Erst mit 16, als ich ein eigenes Auto hatte, konnte ich zu diesen Orten fahren. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich schon sehr verändert.
Willie G., der ungefähr so alt ist wie ich, hat mir einmal erzählt, wie er mit seiner Mutter downtown zu fahren pflegte, um dort diese großen mexikanischen Stageshows zu sehen, wo die Musiker auf dem Rücken von Pferden einritten, so groß waren die Theater! Die Familien kamen zum Mittagessen und fuhren erst abends wieder nach Hause. Ich hätte alles dafür gegeben, einmal dabei gewesen zu sein.
Viele Ihrer Alben, von „Into the Purple Valley“ bis zum „Buena Vista Social Club“, beziehen sich auf vergangene Orte und Zeiten. Was reizt Sie an solchen Rekonstruktionen?
Jede Musik hat doch ihren Ursprung in einem bestimmten Lebensstil und einem historischen Milieu. Die Lieder von 1949 und 1950 erzählen, wie downtown Los Angeles früher klang. Für mich ist das faszinierend, weil ich ja weiß, wie es hier früher aussah, bevor die großen Konzerne alles übernommen haben. Heute besteht Los Angeles nur noch aus McDonald’s, Shopping Malls und Freeways, und alles reduziert sich auf die Frage: Wo bekomme ich meine Coke und meinen Cheeseburger?
In Deutschland nennt man das Amerikanisierung.
Klar, weil es hier erfunden wurde. Aber das ist die Globalisierung, die ist überall gleich.
Entspringt Ihre Platte der Suche nach den Wurzeln der Chicano-Kultur in Los Angeles?
Mich hat einfach interessiert, wie sich die Musik von Los Angeles entwickelt hat. Durch die stetige Einwanderung etwa aus Mexiko haben sich hier neue, hybride Musikstile herausgebildet. So habe ich mir diese Chicano-Story angeschaut und mich mit Musikern jener Ära getroffen: mit Leuten wie Lalo Guerrero, der in den Vierziger- und Fünfzigerjahren ein Star der Chicano-Musik war, oder Don Tosti. Wir haben dann zusammen im Studio ein paar Chuco Suaves aufgenommen, das sind klassische Tanzstücke im Pachuco-Stil.
Was ist Pachuco?
Sehen Sie, bis zum Zweiten Weltkrieg war die mexikanische Familie eine Bastion. Der Vater war der Boss, seine Söhne arbeiteten für ihn, während die Mutter und die Töchter zu Hause blieben und Tortillas buken, außer am Sonntag, wenn alle zur Kirche gingen. Doch der Zweite Weltkrieg hat, wegen der Militärbasen und der Rüstungsindustrie in Los Angeles, das gesamte Leben auf den Kopf gestellt. Die Frauen gingen arbeiten, und als Roosevelt die Schulpflicht einführte, gingen die Töchter und Söhne erstmals gemeinsam zur Schule.
Nach dem Krieg wollten diese Jugendlichen ihren Spaß haben. Sie gingen aus, die Mädchen trugen Kleider, High Heels und Make-up, und die Jungs cruisten nächtens in ihren Lowrider-Cars durch die Stadt. Ein Pachuco war jemand, der hip war. Er trug keinen Sombrero, sondern scharfe Klamotten, die man sich bei den Schwarzen abschaute. Pachuco war im Grunde eine Mischung aus schwarzer und mexikanischer Jugendkultur, mit einem eigenen Slang. Heute ist das alles Vergangenheit. Heute ist jedermann Mittelschicht.
Ging es Ihnen darum, deren Musik zu dokumentieren?
Nein. Man kann heute CDs von all den alten Stars dieser Szene im Laden kaufen. Sie werden „Chicano Oldies“ genannt oder „East Side Oldies“. Mein Album ist einfach eine Hommage, man könnte auch sagen: meine Version der Geschichte. Es ist zu hundert Prozent eine Hörspiel-Fantasie, die meinem Kopf entsprungen ist – auch wenn es dabei um wahre Geschichten und echte Menschen geht.
Zwei der Musiker, mit denen Sie an „Chávez Ravine“ gearbeitet haben, sind inzwischen verstorben: Lalo Guerrero und Don Tosti. Kommt da nicht ein Gefühl der Vergeblichkeit auf?
Ja, es ist, als ob man ein Buch schließt. Wenn die Leute, die an der Quelle sitzen, sterben, dann geht alles verloren. Diese Geschichten sind ja in keinen Büchern niedergeschrieben, in keinem Film verewigt worden.
Wie Ihren Kollegen Paul Simon und David Byrne, die sich durch weltmusikalische Offenheit auszeichnen, hat es Ihnen vor allem die Latino-Musik angetan. Woher rührt das?
Wenn man in einer Stadt wie New York oder Los Angeles aufwächst, dann kann man gar nicht anders, als dieser Musik zu begegnen: Ich habe sie mein ganzes Leben lang gehört. Außerdem ist es schwer, der lateinamerikanischen Musik zu widerstehen: Der Rhythmus ist so subtil, er hat einen guten flow. Ich kenne niemanden, der sie nicht mag.
Trotzdem gilt Latino-Musik in den USA immer noch als Musik einer Minderheit, nicht als Mainstream.
Das stimmt. Wir haben zwar einen Latino-Bürgermeister in Los Angeles, aber Latino-Musik gilt als etwas Exotisches. Latinos haben ihn gewählt, sie stellen inzwischen die Mehrheit. Damit bricht eine neue Ära an.
Der Urbanist Mike Davis meint, dass die Latinos die Zukunft der amerikanischen Städte bestimmen werden.
Das Wachstum der Latino-Bevölkerung, insbesondere im Westen der USA, ist enorm. Aber diese Leute waren schon immer hier, in Kalifornien. Jeder weiß: Sie machen die Arbeit, die keiner sonst machen will. Ohne Latinos gäbe es hier keine Industrie und keine Landwirtschaft.
Samuel Huntington dagegen warnt, dass die Latino-Einwanderung den Charakter der USA verändern wird.
Natürlich wird sie das. Aber die USA sind doch eine Nation von Einwanderern. Meine Mutter war Italienerin, mein Vater hatte deutsche und irische Wurzeln. Wie kann man da eine Linie ziehen und sagen: Bis hierhin ist es Amerika, und ab da ist es das nicht mehr? Das ist doch absurd.
Außerdem sind es mittlerweile die Chinesen, die in großer Zahl nach Los Angeles kommen. Aber die waren auch schon immer da: Sie haben einst die Schienen für die Bahn gelegt.
Bildet die Einwanderung nicht ein Gegengewicht zur kulturellen Homogenisierung, die Sie so beklagen?
Ich fürchte, nein. Was finden denn die Menschen vor, wenn sie neu irgendwohin kommen? Sie finden eine Shopping Mall. Und wenn man dort hingeht, dann ist man ein Konsument.
Ich glaube, der Mensch der Zukunft wird multiethnisch sein und keine besonderen kulturellen Eigenheiten mehr aufweisen. Manche Kubaner glauben, dass es auf Kuba bald nur noch eine Hautfarbe geben wird. Ich kenne Iraner, die mit Chinesen verheiratet sind, und Latino-Familien mit chinesischen Schwiegertöchtern: Die haben hübsche Kinder! Das ist das Amerika der Zukunft.
Aber dann wird es keine Lalo Guerreros oder Willie G.’s mehr geben oder Leute wie mich. Die Leute werden es nicht mehr verstehen, weil sie ein anderes Leben führen und nicht mehr diesen Hintergrund haben. Was wird stattdessen kommen? Multinationaler, intergalaktischer HipHop, denke ich mal.
Besteht für Sie Hoffnung nur in der Rückschau?
Nein, das sage ich nicht. Die Leute sollen ruhig HipHop hören, wenn sie es mögen. Aber ich mag das, was ich mache, also mache ich es. Mal sehen, wie lange noch – das hängt davon ab, ob mir die Firmen weiter erlauben, so seltsame Platten zu machen.
Warum so pessimistisch? „Buena Vista Social Club“ war doch extrem erfolgreich.
Das stimmt, eine Zeit lang lief die Musik in jedem italienischen Restaurant, das es gibt. Das ist dem Clave-Rhythmus zu verdanken, der hellt das Gemüt auf. Außerdem eignet er sich gut als Begleitung zum Dinner: Man kann seine Gabel im Rhythmus dazu bewegen. Das ist sehr praktisch.
Das klingt böse.
Wir leben in einer Zeit, in der der traditionelle Plattenhandel im Sterben liegt. Heute verkauft man Platten über Boutiquen oder Coffee Shops. Neulich habe ich gehört, dass die Buchkette Barnes & Nobles mein Album „Chávez Ravine“ nicht in ihren Filialen spielen möchte: Sie finden es zu seltsam und holprig. Sie bevorzugen eine akustische Tapete, von der sich niemand gestört fühlt. Das hat mich wirklich rasend gemacht: Was zum Teufel ist mit diesen Leuten los? Barnes & Nobles sind so besorgt um ihre Kunden, sie möchten sie um keinen Preis verstören. Wir leben in traurigen Zeiten. Und solcher Mist macht mich tatsächlich pessimistisch, wenn ich in die Zukunft blicke.
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