Trauma nach dem Erdbeben: „Am schlimmsten abends und nachts“
In der Türkei weicht die Angst nicht mehr von den Menschen. Erdoğan verspricht derweil neue Häuser, dabei mangelt es sogar an Lebensmitteln.
Die Angst sei im Grunde immer da, erzählt das Mädchen. „Am schlimmsten ist es aber abends und in der Nacht.“ Sie mache seit Tagen kaum ein Auge zu, so sehr fürchte sie sich, dass es wieder passiere, sagt das junge Mädchen. Ihre Schwestern nicken. Auch sie trauen sich kaum zu schlafen.
Mehr als zwei Wochen ist es nun her, dass sie und Millionen andere Menschen in der Südosttürkei durch ein schweres Erdbeben aus dem Schlaf gerissen wurden. Antakya in der Provinz Hatay ist von der Katastrophe besonders stark getroffen. Kaum ein Haus steht noch – und wenn, dann mit Rissen in der Fassade – oder gar keiner Fassade mehr.
Neben der Zerstörung ganzer Ortschaften, den über 40.000 Toten und der ständigen Gefahr für die Überlebenden, aus mangelnden Hygienemöglichkeiten an Hepatitis oder Cholera zu erkranken, ist die Angst eine der schlimmsten Folgen der Erdbeben. Sie ist zum täglichen Begleiter geworden und wird genährt durch die Tausenden Nachbeben, selbst wenn die nur leicht ausfallen.
„Wir sind panisch geworden“
Das Mädchen und ihre Familie sind letzte Woche umgezogen. Sie kamen in derselben Provinz in einem Dorf unter, das weniger zerstört ist als ihre Heimatstadt Antakya. Die Angst zieht mit. Einmal schickt das Mädchen eine Textnachricht: „Heute Nacht gab es ein Erdbeben – mit der Stärke 5,1.“ Ihr und der Familie gehe es gut. Diese Erschütterung war zwar deutlich weniger stark als die ersten Beben, die ihr Haus zu einem Trümmerhaufen machten. Aber es reicht, um das Trauma zu vertiefen. „Wir sind panisch geworden“, schreibt sie. Als dann am Montagabend in Hatay auf einmal wieder die Erde bebt, ist das Mädchen nicht mehr erreichbar. Stunden später wird klar: Sie lebt, aber sie spricht nicht mehr.
Seit Tagen warnen Psychologen im der Türkei vor den psychischen Folgen der Naturkatastrophe. Manche sind als Freiwillige ins Krisengebiet gefahren. Dort, wo Angst zum Alltag geworden ist, wird ihre Hilfe dringend benötigt. Angesichts der Millionen Betroffenen ist sie dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aus der Erfahrung von früheren Erdbeben und der Arbeit mit Überlebenden ist bekannt: Die Aufarbeitung kann Jahrzehnte dauern.
Die Regierung scheint eine andere Art der Bewältigungsstrategie gewählt zu haben. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan reiste am Montag in die zwei Provinzen, in denen noch nach Überlebenden gesucht wurde. Eine ist Kahramanmaras, die andere ist Hatay. In der 296. Stunde nach den Beben, 13 Tage später, wurden dort noch zwei Menschen lebendig aus den Trümmern geborgen. In die Freude darüber mischt sich bei vielen Bewohnern Bitterkeit: Die Hilfe kam erst ein paar Tage nach dem Unglück. Viele fragen sich: Wenn jetzt noch Menschen gerettet werden können, wie viel mehr hätten überlebt, wenn Hilfe früher gekommen wäre?
Auf die Kritik der Menschen, die wie ein Damoklesschwert über der Regierung schwebt, geht Erdoğan nicht ein. Er schaut nach vorn. In Antakya versprach er: „Wir werden Hatay, das Mustafa Kemal Atatürk ‚meine persönliche Angelegenheit‘ nannte, mit all seinen Farben wiederbeleben.“ Das ist Zukunftsmusik, die außer ihm wohl kaum jemand im Krisengebiet hört. Auffällig ist der Bezug zum beliebten Republikgründer Atatürk. Sein Name wirkt in Erdoğans Satz wie eine Werbeeinlage, den Stolz der Menschen auf ihre Heimat wiederzuerwecken.
„Wir brauchen ganz dringend Zelte“
Erdoğan rief die Bewohner außerdem auf, die Gegend nicht zu verlassen. In einem Jahr würden hier wieder neue Häuser stehen, versprach er. Nur wenige Stunden nach der Ansprache bebte die Erde wieder. Erdoğan war zu dem Zeitpunkt längst weg.
Stattdessen traten am Abend und in der Nacht örtliche Bürgermeister vor die Kameras: „Wir brauchen ganz dringend Zelte“, rief einer verzweifelt. Zwar hat der Katastrophenschutz auch in vielen Orten der Provinz Hatay bereits kleine Lager aufgebaut. „Das hier ist aber eine ländliche Gegend“, erklärte er. „Die Menschen wollen ein Zelt haben und es selbst außerhalb der Städte aufbauen und bei ihrem Vieh sein.“ Außerdem bräuchte die Bevölkerung nun erst mal dringend Lebensmittel. Von Zukunftsvisionen und neuen Häusern spricht er nicht. Daran mag vor Ort wohl noch niemand überhaupt denken.
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