Ukrainische Geflüchtete kehren zurück: Aus dem sicheren Europa in den Krieg
Weil sie ihrem Land vor Ort zu helfen wollen, kehren viele geflüchtete Ukrainer*innen zurück. Darunter auch Frau und Sohn des Autors.
Gleich einen Tag nach dem 24. Februar 2022 boten uns viele Bekannte in Deutschland Zuflucht an. Ich bedankte mich, lehnte jedoch jegliche Hilfe ab. Denn ich war der Überzeugung, die schwere Zeit und die Bombenangriffe würden bald vorbei sein – zumal zu jener Zeit die Feindseligkeiten nur im Norden, Osten und Süden der Ukraine offen ausgebrochen waren.
In meiner Stadt Luzk, im Westen des Landes und circa 150 Kilometer von Lwiw entfernt, gingen wir während der Luftangriffe in den Keller, wir lebten alle in einem Raum, versteckten uns im Badezimmer. Wir folgten dem Prinzip der „Verteidigung durch zwei Wände“. Nach den ersten Angriffen auf den Militärflugplatz, die wir von unseren Fenstern aus beobachteten, gab es eine Pause – die Russen ließen Luzk unangetastet.
Doch danach begann eine neue Angriffswelle, und viele rechneten mit einer russisch-belarussischen Offensive aus dem Norden. Bis zur belarussischen Grenze sind es von Luzk 150 Kilometer. Außerdem waren neue Einwanderungsbestimmungen für Ukrainer*innen in Europa verabschiedet worden, die es ihnen erleichterten, dem Krieg zu entkommen.
Zu diesem Zeitpunkt berichteten wiederum gute Bekannte, dass eine deutsche Familie aus Potsdam bereit sei, Ukrainer*innen aufzunehmen. Mitte März beschlossen wir, dass meine Frau und mein jüngerer Sohn fliehen würden. Laut Kriegsrecht dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine nicht verlassen.
Flucht nach Potsdam
Unsere neuen Freunde in Potsdam stellten Swetlana und Iwan die erste Etage ihres Hauses zur Verfügung. Mein Sohn besuchte das Leibniz-Mathematik-Lyzeum, und Swetlana bekam eine Stelle in einem Café. Das half ihr nicht nur finanziell, sondern auch dabei, besser Deutsch zu lernen. Neue Bekanntschaften entstanden, neue Gefühle kamen auf.
Da meine Frau und mein Sohn in Potsdam gemeldet waren, hatten sie Anspruch auf Sozialleistungen. Außer der Sprachbarriere, die sie fast immer mit Englisch überbrückten, ging es ihnen gut. Aber natürlich hatten sie etwas Heimweh nach der Familie und ihrem Land.
Da die Ukrainer*innen freien Eintritt in den Museen bekamen, waren Swetlana und Iwan jedes Wochenende in Berlin und Potsdam unterwegs. Fast vier Monate später konnten sie sogar selbst Führungen durch die Städte und Museen anbieten: Sie waren praktisch überall gewesen!
Was den Alltag betrifft, so gefielen ihnen die guten Verkehrsverbindungen und die vielen Möglichkeiten für Radfahrer: Wir als Fahrradfanatiker in der Ukraine haben es schwer mit zu wenigen Fahrradwegen und dem Respekt anderer Verkehrsteilnehmer.
Iwan war von der Schule sehr angenehm überrascht – wegen der Lernprozesse, die für ihn neu waren, und der guten Unterrichtsgestaltung. Uns hat die Einstellung der Deutschen in den Familien sehr gefallen – der Respekt voreinander, auch die herzlichen Beziehungen zu den Nachbarn und die Liebe zu Parks und Grünanlagen.
Die Nachteile waren vor allem eine komplizierte Bürokratie, Warteschlangen sowie Einschränkungen bei der Digitalisierung. Swetlana und Iwan erzählten ihren Gastgebern, dass Postsendungen in der Ukraine in einem oder anderthalb Tagen ankommen und es wohl möglich ist, ein Bankkonto innerhalb von 10 Minuten und ohne persönliches Erscheinen zu eröffnen.
Aber dann kam der Frühling 2022. Die ukrainische Armee stoppte Wladimir Putin kurz vor Kyjiw, und der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko bekam Angst und zog sich von einer direkten Kriegsbeteiligung zurück – das tut er eigentlich bis jetzt.
Probleme in Deutschland
In unserer Region wurde es ruhiger, und parallel bekamen Swetlana und Iwan in Potsdam ein Wohnungsproblem. Die Gastfreundschaft unserer Freunde konnten wir nicht weiter in Anspruch nehmen, und in der Zwischenzeit war es praktisch unmöglich geworden, eine Unterkunft in Deutschland zu finden.
Kurz vor dem Schulabschluss meines Sohnes und den damit verbundenen Schwierigkeiten, seine Schulausbildung fortzusetzen, wollten sie nicht an einen abgelegenen Ort in Deutschland umziehen. Außerdem hatten sie, zwei Monate nach der Einreichung ihrer Unterlagen, immer noch keinen Termin für die Anmeldung eines Daueraufenthalts in Deutschland erhalten.
Auf den Beginn eines Integrationskurses würden sie ebenfalls noch mehrere Monate warten müssen. Deswegen beschlossen wir dann doch, dass Swetlana und Iwan am Ende des Schuljahres in die Ukraine zurückkehren würden.
Aber diese Gründe für die Rückkehr sind nur formaler Natur. Vier Monate Leben in Deutschland haben uns davon überzeugt, dass wir nicht bereit sind, die Ukraine zu verlassen, selbst angesichts der russischen Bedrohung physischer Zerstörung. Der Auslöser war Iwans Satz: „Papa, ich werde hier nicht in Frieden leben können, solange ihr alle dort seid.“
Nicht alle können zurück
Selbstverständlich ist unsere Entscheidung eine von Menschen, die an einem Ort wie Luzk leben, der weit weg von der Front liegt. Für die Bewohner*innen des Stadtviertels Saltiwka, in der Stadt Charkiw, oder für die Menschen aus Mariupol kommt es überhaupt nicht in Frage, aus Europa zurückzukehren. Wohin denn?
Tausende von Menschen, die relativ sichere Regionen verlassen haben, sind trotzdem in Europa geblieben. Das ist ihre Wahl. Wir haben uns anders entschieden, weil wir glauben, dass Europa nach unserem Sieg nicht verschwinden wird. Dorthin werden wir reisen, arbeiten und studieren. Wir müssen nur diese ganzen Stromausfälle, Luftangriffe und das tägliche Sterben aushalten. In der Ukraine ist es für uns einfacher, uns selbst und dem Land zum Sieg zu verhelfen.
Ironischerweise hat die größte Fluchtwelle der jüngsten Geschichte auch ihre positiven Seiten. Millionen von Ukrainer*innen haben erfahren, wie das alltägliche Leben in Europa funktioniert. Es handelte sich dabei nicht um eine vorübergehende touristische Erfahrung, sondern um ein grundsätzliches Verständnis des europäischen Lebensstils.
Ideal wäre es, mit einem Koffer voll besserer Fähigkeiten und Kenntnisse zurück in die Ukraine zu kommen, um dabei zu helfen das Heimatland zum Besseren zu verändern. Schön wäre es auch, wenn wir mit westlichen Geldern und russischen Reparationszahlungen unser Europa in der Ukraine aufbauen könnten.
Aus dem Russischen Gemma Terés Arilla
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Wahlkampfchancen der Grünen
Da geht noch was
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“