WO BERLIN AM ARTENREICHSTEN IST
: Auf der großen Wiese

Dirk Knipphals

WESTWÄRTS HO!

Die Kastanien blühen gerade so schön. Manche Blüten haben zwar schon ihren Zenit überschritten und verfärben sich bereits ins Gelbliche. Aber die Mehrzahl presst gerade kurz vorm Absterben noch ihre letzte Leuchtkraft in die Blütenblätter. Im Kleistpark in Berlin-Schöneberg, wo ein paar besonders schöne Exemplare stehen, sieht das geradezu so aus, als würden die sonst so altehrwürdigen und soliden Bäume Party feiern. Und die Ginkgobäume auf der anderen Seite des Parks – der einst der Botanische Garten Berlins war und deshalb so artenreich ist – sehen dann irgendwie traurig und wie nicht eingeladen aus.

Neu nach Schöneberg Gezogenen gibt man natürlich als Allererstes den Tipp, am Samstag auf den Winterfeldtmarkt zu gehen; und die allermeisten Menschen sind dann auch von der Vielfalt des Angebots und der Buntheit der Menschen sehr beeindruckt – nur Münchner neigen meiner Erfahrung nach dazu, sich nicht so begeistert zu zeigen (der Viktualienmarkt scheint noch eine Klasse besser zu sein). Aber eigentlich sollte man Neuzugezogenen raten, sich ein paar Stunden auf die große Wiese des Kleistparks zu legen. Auf jeden Fall ist das die bequemste Möglichkeit, ein Gefühl für diesen Stadtteil zu kriegen.

Es ist nichts wirklich Beeindruckendes, was man da sieht, aber, wenn man mal in die Beobachterperspektive geht, eine ziemlich bunte Mischung. Ausgleichsjogger in den Adidas-Klamotten von vor fünf Jahren traben an türkischen Jugendlichen vorbei, die auf den Bänken sitzen und kiffen. Kleinkindern wird das Eis vom Pulli gewischt, den sie gerade im großen Stil bekleckert haben. Irgendwo wird immer gerade Kindergeburtstag gefeiert. Ein paar Menschen liegen einfach in der Gegend herum und lesen. Frauen in Kopftüchern sitzen auf Decken und reden miteinander. Jugendliche bilden nach der Schule mit ihren Runden oft ziemlich perfekte Kreise; alle wollen eben unbedingt zur Peergroup dazugehören, keiner soll in der Mitte sitzen, aber auch keiner ausgeschlossen werden. Gerade weil in diesem Park nichts auf Außendarstellung ausgerichtet ist, vermittelt er einen guten Eindruck vom unaufgeregten Nebeneinander der Lebensentwürfe, die in dieser Gegend aufeinandertreffen. Am Wochenende übt in der Früh auch die eine oder andere Tai-Chi-Anfängergruppe. Niemand würde hier auf die Idee kommen, das Großstadtleben zu thematisieren oder sich als Teil einer Szene oder einer Berlin-Erzählung zu begreifen. Man hat eben einfach ein paar Stunden frei und will nicht unbedingt in seiner Bude hocken (bei den türkischen Jugendlichen kommt allerdings noch ein anderer Aspekt hinzu, sie können hier der Sozialkontrolle ihrer Familien entgehen). Und die einzige Regel, die es gibt, ist die, dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt.

Vor zwei Jahren hat es aber auch einen Menschen gegeben, der den Kleistpark geradezu bewohnte. Unterhalb des Gerichtsgebäudes gibt es in der Mauer zwei bogenförmige, etwa ein Meter tiefe Hohlräume, in denen er sich gerade häuslich eingerichtet hat. Sonntagvormittags, wenn man in dem Park seine Joggingrunden drehte, sah man ihn hinter Tüten und Pappkartons immer in einem dieser Hohlräume liegen. Tagsüber saß er dann bei gutem Wetter auf einer der Bänke. Nie habe ich ihn, einen etwa 50-Jährigen, nicht weiter auffälligen Mann etwas anderes tun sehen als liegen oder sitzen. Traurig war das, aber irgendwie auch normal.

Spätestens als es Winter wurde, sogar der erste Schnee lag und dieser Mann immer noch hinter seinen Kisten und Tüten schlief, hat man dann schon den Gedanken gedacht, dass man hier im Kleistpark, inmitten all dieser Sozialgruppen und -grüppchen auch ganz schön einsam sein kann. Und die Regel des Nicht-so-genau-Hinguckens, mit der sich Großstadtbewohner gegenseitig vor Aufdringlichkeit schützen, wurde auf die Probe gestellt. Man begann sich schlicht Sorgen zu machen, ob der Mann noch lebt.

Irgendwann, bevor der harte Frost einsetzte, ist der Mann dann aber doch weg gewesen. Seine Kartons rotteten noch ein paar Wochen im Schnee, dann waren auch sie weg. Wie schon im vergangenen Frühling habe ich auch dieses Jahr pünktlich zur Kastanienblüte wieder an ihn denken müssen. Hätte ja sein können, dass er zurückkommt. Ist er aber nicht.