: Der große Transformator
Erstaunlich wenig grün: In seinem Buch „Rückkehr der Geschichte“ geht es Joschka Fischer ums große Design. Vom Bush-Amerika bis zur postnationalstaatlichen Wolfswelt – alles muss eingehegt werden
VON CLAUS LEGGEWIE
Joschka Fischers Anspruch, zu den Großen der Weltpolitik zu zählen, ist bekannt und gar nicht unbegründet. Schließlich ist er weltweit der erste Repräsentant der globalen Protestbewegung von 1968, der den Marsch auch durch die Institutionen der auswärtigen Politik geschafft hat, die sich und ihre Staatsgeheimnisse gegen Außenseiter bis heute besonders stark abschottet.
Das lange erwartete, durch die Visa- und Nachrufaffären verzögerte Buch ist einzureihen in die „Erinnerungen und Bekenntnisse“ großer Außenpolitiker von Talleyrand über Bismarck bis Kissinger, die ihre Zeitgemälde mit Eigenlob zu verbinden wussten. In diese Ahnenreihe hat sich Fischer in aller Bescheidenheit eingeschrieben: Die kompakte, streckenweise brillante Analyse der weltpolitischen Lage beweist Weitblick, zugleich bleibt die Darstellung aber erstaunlich akademisch und hebt eigene Anteile am weltpolitischen Geschehen nie direkt hervor. Man weiß nicht, ob sich der deutsche Außenminister für einen Ehrendoktorhut bewirbt – oder doch für den Posten des EU-Außenamtschefs.
Das Buch schreitet die „Welt nach dem 11. September“ so souverän ab, dass auch die in Deutschland immer noch überwiegend liberalkonservative Expertengemeinde von Baring über Schwarz bis Weidenfeld das nicht mehr als grüne Provinz abtun kann. Wer würde dem Außenminister ernsthaft widersprechen, wenn er den Dschihadterror als neue Spielart des Totalitarismus qualifiziert, als einen Krieg gegen den Westen, der im Blick auf die nuklearen Ambitionen (und Chancen!) von al-Qaida als die Herausforderung des 21. Jahrhunderts zu gewichten ist? Man kann Fischer auch nur zustimmen, wenn er diese erst 2001 ins Bewusstsein getretene Konstellation als Folge der historischen Zäsur von 1989 darlegt. Mit ihr ist der ordnende Zentralkonflikt Ost versus West entfallen. Zugleich ist die westfälische Staatenwelt, die seit dem 17. Jahrhundert das Feld der Außenpolitik als internationale Beziehungen souveräner Nationalstaaten definierte, zerfallen.
Auch die Konsequenzen und Forderungen Fischers wird man unterstützen: eine umfassende Lösung des Nahostkonflikts, die das Existenzrecht Israels und einen Palästinenserstaat voraussetzt, aber auch eine „große Transformation“, die demokratische und sozialpolitische Wende der autokratisch dominierten Region beinhaltet; eine tief greifende Erneuerung des UN-Systems und nicht zuletzt das Hineinwachsen des Vereinten Europa in eine strategische Weltmachtrolle, die vor allem auf seiner Softpower beruht, aber auch eine militärische Dimension haben muss.
Fischer, der sich jeder USA- und Bush-Kritik enthält, liegt damit ziemlich nahe beim neokonservativen Internationalismus in Washington – und ist doch meilenweit entfernt vom dortigen Mainstream. Er bejammert den historisch einmaligen Hegemonialstatus der USA nicht, träumt aber davon, ihn im Sinne des „besseren Amerika“ einhegen und rationalisieren zu können. Sein „We are not convinced“, das er Colin Powell im UN-Sicherheitsrat entgegenhielt, als das transatlantische Bündnis am Irakkrieg zu zerbrechen drohte, war, wie dieses Buch unterstreicht, Ausdruck eines echten Leidens an den USA, die sich selbst nicht treu bleiben wollen.
Sicher sind die „Erneuerungen des Westens“ und die Reparatur der transatlantischen Allianz vordringlich. Aber Fischer verkennt, wie wenige in Washington das noch hören wollen. Hinzu kommt, dass seit Ronald Reagan dort eine andere weltpolitische Linie verfolgt wird. Die vornehmlich zitierten amerikanischen Autoren, etwa Jeremy Rifkin, spielen in den USA jedenfalls kaum eine Rolle.
Es geht eben nicht bloß um „ein ganzes Knäuel von politischer und emotionaler Fehlkommunikation“ zwischen Washington und dem Alten Europa. Außerdem ist es nur eine fromme Hoffnung, wenn Fischer die „Unmöglichkeit eines amerikanischen Imperiums“ postuliert und statt dessen auf ein per se „antihegemoniale Projekt“ der USA als globales Modell setzt. Fischer benutzt den Jargon der „realistischen Schule“, aber hier erweist er sich als Idealist reinsten Wassers.
Diesem Resümee des bis auf wenige sprachliche Ausrutscher angenehm zu lesenden Buchs hat man schon entnehmen können, wie wenig „grün“ es ist. Das ökopazifistische Fußvolk hält bekanntlich die imperiale Politik Washingtons für das Hauptübel unserer Epoche und setzt unverdrossen – siehe auch das linke Nein zum EU-Referendum – auf nationalstaatliche Souveränität, eine anachronistische Haltung, die selbst dem Irak Saddam Husseins das Selbstbestimmungsrecht nicht nehmen wollte.
Das alles ist Humbug, den Fischer souverän widerlegt – oder besser: übergeht. Denn in einem Buch mit 237 Fußnoten fehlt vor allem eine: der Hinweis auf das eigene, 1994 erschienene Buch „Risiko Deutschland“. Aus einer provinziellen Haltung des „Wehret den Anfängen!“ heraus hatte Fischer darin vor all dem gewarnt, was seine Politik seit 1998 kennzeichnet: die routinierte Beteiligung an humanitären Interventionen, das energische Streben nach einem Sitz im UN-Sicherheitsrat und die unverhohlene Führungsrolle im Vereinten Europa.
Reicht für diesen erstaunlichen Sinneswandel die lapidare Fußnote 123? Sie lautet: „Der Autor bezieht sich in diese Kritik der damaligen pazifistischen Haltung der deutschen Linken durchaus selbstkritisch ein.“ Das ist dürftig. Fischer ist offenbar nicht auf Diskussion aus. Im großen Design vernachlässigt er das Kleingedruckte der rot-grünen Politik, darunter eine Würdigung der ja durchaus berechtigten Kritik an der Kosovo-Militäraktion, die er 1999 maßgeblich vorangetrieben hat. Anders als damals begründet er sie heute nicht mehr mit moralischen Argumenten, sondern mit der Eskalationsgefahr des Konflikts.
Fischer hätte auch nicht so oft den maßlos überschätzten Robert Kagan zitieren sollen, sondern auch Erkenntnisse amerikanischer und europäischer Thinktanks einbeziehen dürfen. Die hiesige Friedens- und Konfliktforschung ignoriert er fast völlig, ebenso die regierungsnahe Politikberatung, sogar den Planungsstab im eigenen Haus.
Wenig grün ist Fischers außenpolitische Analyse auch in anderer Hinsicht. Die Umwelt- und Klimapolitik ist ihm nur ein paar Zeilen wert; vor allem aber übersieht er die neuen Akteure heutiger Weltpolitik: die Nichtregierungsorganisationen. Dabei repräsentieren sie doch die von Fischer geforderte zivile Dimension in der postwestfälischen Wolfswelt und können als Einzige die von ihm durchweg begrüßte Globalisierung demokratieverträglich gestalten. Diese gouvernementale Fixierung, die Fischer im Auswärtigen Amt kaum jemand gedankt hat, rächt sich nun in Gestalt der linkspopulistischen Opposition gegen seine Idee von Europa.
An dem Buch ist noch bis Ende Mai redigiert worden, sodass das absehbare Scheitern des französischen und niederländischen Referendums rhetorisch antizipiert wurde. Auch wenn er seine eigene Leistung durchaus würdigt – die Kölner „Erklärung zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ sowie die „Petersberg-Aufgaben“ –, liest sich das Europakapitel wie ein Abgesang: „Ein Scheitern der Verfassung würde die EU zum Verharren in einem Status quo zwingen, der schon heute ihrer Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird. Faktisch liefe es auf die Blockade der weiteren Integration der Union der 25 hinaus, und damit würden jene Fliehkräfte gestärkt, die für die große Union hoch gefährlich werden können.“
An diesem Satz braucht man nur den Konjunktiv aufzulösen – und hat eine aktuelle Zustandsbeschreibung. Auch Fischer hat keinen Plan B, da er „objektiv keine ernsthafte Alternative mehr zu dem europäischen Verfassungsvertrag“ erkennen konnte. „Subjektiv“ ist es nun bekanntlich anders gekommen, und zwar gerade bei den Gründungsvölkern der EU, die ihre Brüssel-Eliten nun abstrafen.
Hätte Fischer geahnt, dass seine Schrift zu Beginn eines Wahlkampfes erscheinen würde, hätte er den eigenen Anteil wohl deutlicher herausgestellt. Aber der akademische Duktus geht womöglich auch darauf zurück, dass im Großen und Ganzen nicht Joschka Fischer, sondern Bundeskanzler Gerhard Schröder die rot-grüne Außenpolitik geprägt hat – mit einem erheblich „unverkrampfteren“ Verhältnis zu Israel, mit der dubiosen Männerfreundschaft mit Russlands Putin und mit einer oft bedenkenlosen Außenwirtschaftspolitik.
Außenpolitik wird weder den Lagerwahlkampf noch die rot-grüne Binnenauseinandersetzung beeinflussen. Das Fazit des Buches ist blass und, wie schon die Aussagen Fischers zum Beitrittsprozess der Türkei, wenig konkret – als hätte hier ein Leitartikler argumentiert und nicht der amtierende Außenminister. Die Wiederherstellung der atlantischen Allianz bleibt nun wohl anderen überlassen; man kann gespannt sein, wie die rechte Mitte diese Aufgabe anpackt. Einen Besseren als Fischer findet man so leicht nicht.
Joschka Fischer: „Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September 2001 und die Erneuerung des Westens“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 256 Seiten, 19,90 €
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