Die Schattenseite der Literatur

KULTURHERBST Das Literaturfest Niedersachsen ist diesmal der Nacht gewidmet. Unter den ausgewählten Orten sind eine Sternwarte, Schlaflabore und ein Mausoleum. Sponsor ist eine Versicherung

Fest steht jedenfalls: Der Kulturherbst zwischen Ems und Elbe wird zappenduster

Man weiß nicht, liegt es an der großen Krise, an Schlafstörungen, an zu vielen Überstunden? Oder manifestiert sich im Trend zum Somnambulen ein neuer Radikal-Chic, betonharte surreale Zeitkritik? Der Kulturherbst zwischen Ems und Elbe jedenfalls wird zappenduster. Schon die am Samstag beginnenden „Niedersächsischen Musiktage“ beschwören „die kreative Kraft der Nacht“ und setzen auf „entspannten Hörgenuss im Liegen“. Damit der Besucher nicht ins Reich der Träume flüchtet, wurden die Konzerte an möglichst unbequeme Lokalitäten verlegt: in Tropfsteinhöhlen, Bergwerke und hinter feuchte Klostermauern.

Ein ähnliches Konzept verfolgt nun auch das „Literaturfest Niedersachsen“, das vom 10. bis zum 26. September mit 29 Veranstaltungen „an zum Teil besonders außergewöhnlichen Orten“ aufwartet. Darunter ist eine Sternwarte, ein Mausoleum und ein Schlaflabor. In die Waagerechte muss man dabei allerdings nicht, obwohl es spät werden kann. Das Motto des Lesereigens lautet: „Die Nacht“. Sponsor ist wie immer die Stiftung der VGH-Versicherung. Was passt – schließlich verdient die Branche ihr Geld nicht zuletzt mit den menschlichen Verirrungen nach Einbruch der Dunkelheit.

Entsprechend nüchtern bringt Susanne Reuter, die künstlerische Leiterin, das Thema im Programmheft auf den Punkt. Nacht sei „die andere Seite des Tages“. Dass sich da die Schriftsteller bestens auskennen, liegt auf der Hand. Und die VGH hat auch diesmal keine Kosten und Mühen gescheut, Vortragskünstler wie den amerikanischen Geheimtipp John Wray oder den grandiosen schweizerischen Fabulierer Urs Widmer zu verpflichten, der aus seinem Kurzprosa-Wunderwerk „Buch der Alpträume“ lesen wird.

Das aufwendigste Projekt ist Karen Duves Bestseller „Nachttaxi“ gewidmet. Frau Reuter hat etliche Fuhrunternehmer angeheuert, die mit Schauspielstudenten an Bord durch Hannover brummen, um den Fahrgästen den Erfolgs-Roman kostenlos zu Gehör zu bringen. Nach der Fahrt gibt es Bier und Currywurst in der Taxifahrer-Stammkneipe Plümecke.

Die wissenschaftliche Seite des Schlafens kommt im Alfelder Institut für Schlafdiagnostik zur Sprache. Leiter Prof. Josef Wirth versucht mit NDR-Kulturredakteur Stefan Lohr und Autorin Kathrin Röggele („Wir schlafen nicht“) zu klären, warum die Deutschen Kurz-, die Franzosen dagegen erklärte Langschläfer sind. Niedersachsens Polyhistor Heiko Postma ergründet derweil in Stade die mythische Grundierung des Träumens.

Das halbe Dutzend Film- und Fernseh-Mimen um Martina Gedeck und George Clooney-Stimme Detlef Bierstedt decken eher die Gattung Wellness-Lesung ab: erotische Texte mit Barockmusik, Schauergeschichten am Streichquartett oder Mondgedichte flankiert von avantgardistischem Spitzengeklöppel. Aber bitte, über Geschmack soll man nicht streiten.

Im Angebot fehlen weder eine kompetent besetzte Krimi-Lesung noch eine Schattentheaterversion von „Doktor Faustus“. Und der Kritiker und Schundfresser Dennis Scheck moderiert eine nächtliche Scheherazade auf Walter Kempowskis Gut „Haus Kreienhoop“.MICHAEL QUASTHOFF

Literaturfest Niedersachsen, 10. bis 26. September