: Gewalt ist ein Teil unseres Lebens
AUSGANGSPUNKTE Von Drogenbossen, Guerillas und Familientreffen: Das HAU widmet jungen Theaterprojekten aus Lateinamerika einen Schwerpunkt. Ein Besuch bei den Regisseuren in Kolumbien und Mexiko
VON KARIN CERNY
Üppige Bäume säumen die Hauptstraße, man hat das Gefühl, der nächste Strand liegt gleich um die Ecke. Die kolumbianische Stadt Medellín strahlt entspanntes Karibikflair aus, dabei ist man mehrere Autostunden von der Küste entfernt. Das Image der einstigen Drogen- und Mordmetropole, die inzwischen Vorbildliches in Sachen Sozialarbeit und Integration von Problemvierteln geleistet hat, ist nach wie vor überschattet von einer Figur: dem legendären Drogenboss Pablo Escobar, der einst von der USA zum Staatsfeind Nummer eins erklärt wurde.
1993 starb der selbst ernannte „El Patron“ bei einer Razzia. Jeder in der Stadt hing von seinen dunklen Geschäften ab. „Wir sind eine Generation von Künstlern, die die Gewalt von Escobar geerbt hat“, sagt Rolf Abderhalden, der mit seinem Mapa-Teatro gerade „Discurso de un hombre decente“ probt: „Es ist aber kein Stück über ihn, sondern wir fragen: Was können wir tun, um diese Phase abzuschließen?“ Ein zentrales Thema der vielschichtigen Performance ist die Überlegung, ob man Drogen nicht legalisieren sollte. „Zwanzig Jahre Krieg gegen Drogen haben nichts gebracht, nur Opfer“, sagt Abderhalden.
Ein junger HipHopper rezitiert Textpassagen aus Reden des Drogenbosses, und auch Escobars einstige Unterhaltungsband steht auf der Bühne. Oder zumindest jene alten Herren, die ihn überlebt haben. Drei Bandmitglieder starben nämlich bei einem Bombenanschlag, den Escobar in einer Arena in Auftrag gab (25. und 26. Mai HAU 2).
Durch reale Geschichten wie diese wird deutlich: Auch Profiteure des Drogenkartells konnten schnell zu deren Opfern werden. Die Fronten waren nicht einfach auszumachen, gerade in Kolumbien, das lange als eines der gefährlichsten Länder der Welt galt. In einem chaotischen Bürgerkrieg wurde es für die leidtragende Zivilbevölkerung zunehmend schwieriger, den längst überlappenden Gewaltzonen von Guerillagruppen, Paramilitärs und Drogenkartellen zu entkommen.
Der ehemalige Regierungschef Álvaro Uribe Vélez, bis 2010 im Amt, sorgte mit Militärgewalt für Sicherheit im Land; aber noch ist der Frieden frisch und labil.
Man spürt das Ringen um eine Zivilgesellschaft, aber auch die starke Aufbruchstimmung in einem Land, das gerade wie so viele Staaten in Lateinamerika, einen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Auch die Tourismuswerbung spielt ironisch mit dem schlechten Image des Landes. Auf Plakaten kann man lesen: „Colombia – the only risk is wanting to stay“.
In der Hauptstadt Bogotá läuft die Theatertrilogie „Familienangelegenheiten“ des jungen Autors und Regisseurs Jorge Hugo Marín. Für den ersten Teil „El autor intelectual / Der Anstifter“, der bereits vor zwei Jahren in Berlin zu sehen war, erklärte er kurzerhand seine eigene Wohnung zur Bühne. Drei Geschwister argumentieren, wer von ihnen die kranke Mutter pflegen soll. Vieles, was hier verhandelt wird, gilt auch für Europa. Allerdings: Welche Dame trägt zu ihrer Sicherheit hierzulande eine Pistole in der Handtasche?
„Die Familie ist für mich ein Abbild der Gesellschaft“, sagt Marín, und: „Gewalt ist einfach Teil unseres Lebens.“ Wie fest die dunkle Vergangenheit noch immer präsent ist, macht ein Blick in das Gratis-Stadtmagazin deutlich. Auf einer Doppelseite sind Waffen abgebildet, die wie Kunstgegenstände aussehen: ein Schraubenzieher, der zum kleinen Säbel umfunktioniert wurde, ein USB-Stick, aus dem ein spitzer Nagel ragt. „Rund 500 Mordfälle passieren hier jedes Jahr mit solchen selbst gebastelten Waffen“, erzählt Marín, für den der komplexe Alltag in seiner Heimat oft der Ausgangspunkt seiner Arbeit ist. In „Cómo quieres que te quiera / Wie soll ich dich lieben“, dem finalen Teil seiner Trilogie, feiert ein 15-jähriges Mädchen aus der Oberschicht protzig ihren Geburtstag (22. + 23. Mai HAU 3). Schade nur, dass ihr Vater nicht dabei sein kann. Er ist Drogenboss und sitzt im Gefängnis. Marín erinnert sich, selbst auf einer solchen Party gewesen zu sein. Plötzlich sei eine riesige Videowand herunter gefahren worden. Der Vater des Mädchens habe via Video Grüße aus der Zelle gesandt.
Viereinhalb Flugstunden weiter nördlich liegt der Moloch Mexiko-Stadt. Die U-Bahn-Zeitungen sind auch hier nicht zimperlich. Kaum eine Ausgabe, die nicht mit einer entstellten Leiche in Großaufnahme aufwartet. Es sieht so aus, als wollten Mexiko und Kolumbien gerade die Rollen tauschen. In weiten Teilen Mexikos eskaliert die Gewalt, Drogenkartelle töten willkürlich, wer ihnen bei ihren Geschäften ins Gehege kommt.
Im Stadtteil Roma in Mexiko-Stadt merkt man davon wenig. Es ist Wochenende, sportliche Menschen promenieren mit ihren Rassehunden. Die Hipster-Dichte ist hier mindestens so hoch wie in Berlin-Mitte. In einer Jugendstilvilla dreht Gabino Rodríguez, Teil des Künstlerkollektivs Lagartijas tiradas al sol, gerade einen Film. Schauspieler wurden zum Casting geladen. Was sie nicht wissen: Die Probeaufnahmen sind bereits der eigentliche Film. Die ahnungslosen Akteure müssen revolutionäre Texte sprechen. „Wir wollen mit den Klischees der Revolution spielen“, sagt Rodríguez, der gerade einem Darsteller ein Kindergewehr aus Holz in die Hand drückt.
Die Frage, was Rebellion inzwischen bedeuten kann und wie die Generation ihrer Eltern einst damit umgegangen ist, beschäftigt das Künstlerkollektiv schon länger. In ihrer Theaterproduktion „El rumor del incendo / Die Sprache des Feuers“ (21. und 22. Mai im HAU 3) thematisieren sie den bewaffneten Kampf der Guerillabewegung zwischen 1960 und 1990.
„Man lernt in der Schule nicht viel über jene Jahre“, sagt Rodríguez. „Wir wollen eine Diskussion anregen, auch um zu fragen, ob es heute überhaupt noch möglich ist, politisch links zu sein.“ Die Präsidentschaftswahl diesen Juli wird darauf sicher eine Antwort geben.
■ „La vida después / Das Leben danach“, 21.–26. Mai im HAU
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