„Deutsche Hörer!“

23. Februar 1943. „In gewissem Munde wird nämlich auch die Wahrheit zur Lüge“: Der Originaltext von Thomas Mann über Stalingrad und die monströse Perfidie der Nazis

Von Thomas Mann

Die Geschichte wird einmal geteilter Meinung darüber sein, was widerwärtiger war, die Taten der Nazis oder ihre Worte. Es wird ihr auch schwer fallen, zu entscheiden, wann dies Gelichter die Menschheit mehr beschimpfte: wenn es log, oder wenn es die Wahrheit sagte. In gewissem Munde wird nämlich auch die Wahrheit zur Lüge, zu einem Mittel des Betruges, – und widerwärtiger kann man freilich nicht lügen als mit der Wahrheit. Goebbels und die Seinen schwelgten kürzlich in Wahrheitsliebe. Die rückhaltlose Redlichkeit, mit der sie das deutsche Volk von dem Desaster in Rußland benachrichtigten, das allerdings zu den verheerendsten Miß­erfolgen der Kriegsgeschichte gehört, war monumental und überwältigend. An dem schauerlichen Ende der Belagerung von Stalingrad wurde nichts beschönigt, – außer etwa durch die Nichterwähnung der Tatsache, daß gerade für diese Katastrophe Führer Hitler ganz allein und persönlich verantwortlich ist. Im Radio spielte man zu der Nachricht nicht die Parteihymne, das Horst Wessel-Lied, das doch vielleicht unangenehm berührt hätte, sondern „Ich hatt’ einen Kameraden“. Eine viertägige Reichstrauer wurde ausgeschrieben, eine Trauer über die mißglückten Untaten des Nazi-Regimes, – ein Hohn auf die wirkliche Trauer, in die das Volk durch das sinnlose Verderben von Zehntausenden seiner Söhne versetzt ist. Was sich an Empörung, Verzweiflung, Aufsässigkeit etwa regen könnte, wird in Trauer versenkt. Wir wollen alle miteinander trauern, Führer und Verführte, und „Ich hatt’ einen Kameraden“ singen!

Der widerliche Beigeschmack der Wahrhaftigkeit rührte von ihrer Zweckhaftigkeit her. Ihr Zweck war erstens, den elementaren Patriotismus des Volkes für die Rettung des Regimes zu mißbrauchen und es zu einer Mobilisierung der letzten Kräfte, einer levée en masse zu bewegen, – wobei es den Veranstaltern weniger um die zweifelhaften Ergebnisse dieses letzten Aufgebots, als um die damit verbundene ablenkende Emotion zu tun ist. Zweitens aber, und besonders, wurden die Siege der Russen, wurde die Nazi-Niederlage so offen und ehrlich aufgemacht und womöglich noch vergrößert, um die angelsächsische Welt in Schrecken zu versetzen vor der „Roten Gefahr“, vor der Überschwemmung des europäischen Kontinents durch den Bolschewismus. Die wirre Botschaft, die Hitler zum 10. Jahrestag der Machtergreifung verlesen ließ, voll von erpresserischen Warnungen dieser Art, voll von rhetorischen Rudolf Hess-Flügen über den Kanal, unternommen in der hartnäckigen Hoffnung, England und die Vereinigten Staaten doch noch gegen „Zentral-Asien“, soll heißen: Rußland, auf seine Seite zu bringen. Ost-Asien, nämlich Japan, sein Verbündeter, ist sehr gut, aber „Zentral-Asien“, nämlich Rußland, das er frech und dumm mit Krieg überzogen hat, ist der Weltfeind. Er selbst, Hitler, ist feinstes, edelstes, zartestes, kultiviertestes Europa; aber das Land Puschkins, Gogols und Tolstois ist Hunnenland, dessen Horden sich anschicken, Hitlers blühenden Kontinent in „unvorstellbare Barbarei“ zu stürzen.

Es ist ein elender Schwindel, und er wird fruchtlos sein. Den Nazis steht es an, die Gesellschaftsfähigen zu spielen und durch Göring mit dem Zaunpfahl winken zu lassen, ebenso dick wie er selbst: „Wir werden allenfalls mit Gentlemen Frieden schließen, aber niemals mit den Sowjets!“ Wissen sie immer noch nicht, dass sie jedes Friedensschlusses überhoben sein werden? Daß mit ihnen niemand Frieden schließen wird, weder die Demokratie noch der Sozialismus? Dass der Frieden nach ihnen kommt? – Was aber die Rote Gefahr betrifft, so hat Stalin in seiner Rede vom 6. November 1941 gesagt: „Unser erstes Ziel ist, die russische Erde und ihre Bewohner vom deutschen Nazi-Joch zu befreien. Kriegsziele wie das, unseren Willen und unsere Regierungsform den slavischen oder anderen unterjochten Völkern Europas aufzuzwingen, haben wir nicht und können sie nicht haben.“ Und durch seinen Botschafter Maisky hat er erklären lassen: „Die Sowjet-Union verteidigt das Recht jeder Nation auf Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit ihres Gebietes … und auch ihr Recht, die soziale Ordnung zu errichten und die Regierungsform zu wählen, die sie für ratsam und notwendig hält.“ – In Bezug auf Deutschland aber hat er gesagt: „Ein Hitler kommt und geht, aber das deutsche Volk und der deutsche Staat bleiben.“ Er hat gewiß den Wunsch, die Menschen zu bestrafen, die seinem Lande so unendliches Leiden zugefügt haben, aber nie ist ein Wort der Drohung und des Vernichtungswillens gegen das deutsche Volk über seine Lippen gekommen. Hat Rußland Deutschland überfallen, oder verhielt es sich umgekehrt? Der Tag ist vielleicht nicht fern, an dem das deutsche Volk in Rußland einen besonnenen Freund erkennen wird.

Der Text folgt der Broschüre „Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland“ von Thomas Mann, erschienen 1945 im Stockholmer Bermann-Fischer Verlag. Aktueller Abdruck mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags, Frankfurt am Main.