HASSERFÜLLTE WADEN ALS IDENTIFIKATION MIT DEM JOB: FAHRRADKURIERE LEBEN IN LONDON GEFÄHRLICH
: Mobbing auf dem heißen Asphalt

VON JULIA GROSSE

TRENDS UND DEMUT

Tucholsky besuchte 1920 die Erste Internationale Dada-Messe in Berlin, sah deren zornig-sarkastische Abrechnung mit dem System und meinte: „Wer inbrünstig hasst, muss einmal sehr geliebt haben.“ Was hätte er beim Anblick der Waden des Londoner Fahrradkuriers gesagt, der gestern vor mir in der Supermarktschlange stand? Sie waren fein definiert wie antike Schnitzereien, glatt wie Marmor und schrien jedem, der sie anschaute, frisch tätowiert mitten ins Gesicht: „Fuck“ auf der linken, „Taxis“ auf der rechten.

Menschen wollen Tätowierungen, um ihre Persönlichkeit aufzupeppen. Das Bizeps-Tribal für die Hobby-Amazone, lateinische, hoffentlich richtig zitierte Sprüchlein auf dem Schulterblatt des Wochenendphilosophen. Man will sich schmücken, den Leuten seine Weltsicht mitteilen oder möglichst drastisch rüberbringen, wie man so drauf ist. Und wie schlecht Fahrradkuriere in London in der Regel drauf sind, kann man erahnen, wenn man sie gegen 17 Uhr im Feierabendverkehr in einem Affenzahn Briefe, Verträge und Pralinen von einer Firma zur anderen befördern sieht. Fahrradkuriere leben gefährlich, denn alles, was vier Räder hat, würde sie am liebsten von der Straße jagen. 2011 starben in London 16 Menschen auf ihrem Rad, und als Kurier sein Geld zu verdienen, hat mit Spaß und Kreativität eher wenig zu tun. Doch eine Rage mit solchen schmerzhaften Konsequenzen zu entwickeln, ist ziemlich einzigartig, und natürlich hatten längst auch meine Freunde vom Taxihasser beziehungsweise seinen fluchenden Waden gehört.

Dass Briten ihr geliebtes Schimpfwort „Fuck“ in ihren Tätowierungen verarbeiten, ist dabei nicht einmal das Ungewöhnliche. Was mich so sprachlos macht, ist das regelrechte Zelebrieren dieser ganz spezifischen Hassliebe zwischen diesen beiden rasenden, unterbezahlten Berufsfahrern, die sich Tag für Tag übel gelaunt die Straße teilen wie einen gemeinsamen Arbeitsplatz. Und die Schikane durch das stets stärkere Taxi muss sich für diesen Kurier irgendwann nur noch angefühlt haben wie Mobbing auf dem heißen Asphalt, gegen das sein Tattoo auf den Waden nun leuchtet wie ein trotziges Schutzschild. Doch wozu diese krasse Verschmelzung mit dem Job? Eine frühzeitige Umschulung zum Gärtner hätte ihm auch langfristig ein bisschen mehr Ruhe gegeben. Stattdessen kommt irgendwann eine Zeit nach dem Berufsleben, und da steht er dann im Hochsommer als Rentner mit seinem „Fuck Taxis“ in Paris oder Rom am Taxistand und hätte plötzlich doch ganz gern lange Hosen an.

■ Julia Grosse ist Kulturreporterin der taz in London