Keine Angst vor Abschiebung

Seit dem Beginn des Ukrainekriegs haben Hunderttausende russische Männer in der EU Zuflucht gesucht. Welche Möglichkeiten gibt es, legal nach Deutschland zu kommen? Kann Mobilmachung ein Asylgrund sein?

Interview Alina Danilina

Nach der Ankündigung der Mobilmachung im September 2022 verließen Hunderttausende Männer Russland, die von einer Einberufung zum sofortigen Dienstantritt oder einer Entsendung an die Front betroffen gewesen wären. Einige beantragten politisches Asyl in Deutschland – nachdem sich in russischen Medien die Auskunft verbreitet hatte, dass die deutschen Behörden denjenigen Schutz gewähre, die nicht gegen die Ukraine kämpfen wollen. Ende Dezember brachte die Deutsche Welle einen Beitrag über fünf Russen, die vor der Mobilmachung geflohen und angeblich aus Deutschland abgeschoben worden waren. Darüber, ob das wirklich so gewesen ist, und was zukünftig mit russischen Flüchtlingen in Deutschland passiert, hat dieNovaya Gazeta“mit dem Koordinator der Freiwilligenorganisation inTransit (aus Sicherheitsgründen soll sein Name hier nicht genannt werden; d. Redaktion) gesprochen. Ihre Mitarbeitenden helfen seit März 2022 russischen Kriegsgegnern bei der Ausreise und treten als Interessenvertreter gegenüber den bundesdeutschen Asylbehörden auf.

Im September verbreitete sich in russischen Medien Aussagen deutscher Politiker darüber, dass Deutschland bereit sei, denjenigen Russen Asyl zu gewähren, die vor der Mobilmachung fliehen. Inwieweit entspricht das den Tatsachen? Wie viele Menschen kamen vor diesem Hintergrund?

Viele dieser Aussagen wurden von der Presse nicht richtig interpretiert. Alle Organisationen, die Geflüchteten helfen und zum Thema politisches Asyl beraten, haben damals Richtigstellungen veröffentlicht. Tatsächlich gibt es in Deutschland noch keine Änderung beim Asylverfahren. Liest man die Aussagen der Politiker aufmerksam, merkt man schnell, dass sie ausschließlich Deserteure betreffen. Also Leute, die schon in der Ukraine gekämpft haben oder direkt aus ihrer Einheit geflohen sind. Wenn ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wird, können sie sich in ihrem eigenen Land nicht mehr vor Verfolgung verstecken.

Aber auch früher schon konnten Deserteure politisches Asyl beantragen, unabhängig von ihrem Herkunftsland. Nach Ankündigung der Mobilmachung gingen sehr viele Menschen nach Deutschland, um dort Asyl zu beantragen. Die meisten, bevor sie überhaupt eine Vorladung bekommen hatten. Mit Vorladung kamen deutlich weniger. Deserteure waren fast gar keine darunter, vielleicht ein Dutzend. Und viele von denen, die jetzt in Flüchtlingslagern leben, müssen gar kein Asyl beantragen, sondern können ihren Aufenthalt auf andere Weise legalisieren, mit deutlich weniger Aufwand, zum Beispiel als IT-Spezialisten oder Freiberufler. Die meisten Verfahren derjenigen, die politisches Asyl beantragt haben, befinden sich noch immer in der Schwebe und die Betroffenen haben sich noch nicht einmal an Menschenrechtsorganisationen gewandt.

Gleichzeitig schlugen deutsche Politiker vor, die Mobilmachung als weiteren Grund für den Erhalt von politischem Asyl anzusehen.

Wenn also jemand politisch verfolgt wird, und wenn er außerdem eine Vorladung bekommen hat oder das Risiko der Mobilmachung besteht, kann das theoretisch die Chancen auf eine Anerkennung erhöhen.

Aber kein deutscher Politiker hat gesagt: „Lasst uns alle als politische Flüchtlinge anerkennen, die theoretisch unter diese Mobilmachung fallen könnten.“ Das beträfe 70 Prozent der männlichen Bevölkerung Russlands, plus diejenigen Frauen mit Berufen, die ebenfalls von der Mobilisierung betroffen sind. Aus Sicht der deutschen Behörden, die diese Asylanträge bearbeiten, ist eine Vorladung zum Wehramt nichts, wovor man sich nicht auch in seinem eigenen Land verstecken könnte. Man kann den Ort, an dem man gemeldet ist, verlassen und woanders wohnen, sich als Zivildienstleistender melden oder einfach nicht ins Wehramt gehen.

Was wissen Sie über diejenigen, die „vor der Mobilmachung geflohen sind“ und jetzt angeblich aus Deutschland abgeschoben wurden? Ist das überhaupt möglich?

Fangen wir erst mal damit an, dass es in Deutschland verschiedene Möglichkeiten gibt, Asyl zu beantragen. Nicht alle garantieren einem aber, dass man auch im Land bleiben kann. Man kann aus einem visafreien Land per Flugzeug kommen und dann beim Umsteigen in Deutschland am Flughafen Asyl beantragen. Das ging früher, wenn man kein Schengenvisum hatte. Aber seit Beginn der Mobilmachung funktioniert das aufgrund des hohen Zustroms von Russen immer weniger.

Das deutsche Sozialsystem hat schon mit der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten eine große Last auf sich genommen

Russische Staatsbürger, die jetzt versuchen, aus einem visafreien Land mit Umstieg in einem EU-Land in ein anderes visafreies Land zu fliegen, lässt man in Kasachstan, der Türkei oder Serbien oft gar nicht mehr an Bord des Flugzeugs. Das Geld für das Flugticket wird ihnen dann erstattet.

Die zweite Möglichkeit ist, mit einem Schengenvisum in die EU einzureisen und um Asyl zu bitten. Um aber wirklich genau in Deutschland Asyl beantragen zu können, ist es sehr wichtig, auch ein deutsches Schengenvisum zu haben. Schwierig dabei ist, dass die seit März 2022 nur noch selten erteilt werden. Wenn man in Deutschland mit einem Visum eines anderen Landes Asyl beantragt, greift die sogenannte Dublinverordnung, die die Zuständigkeit der EU-Länder für Asylanträge regelt. Sie wurde erlassen, damit nicht ein und dieselben Menschen in mehreren Ländern gleichzeitig Asyl beantragen. Für den Antragsteller ist also nur ein Land zuständig – das, das ihm das Einreisevisum erteilt hat, oder das, in dem er zuerst die EU betreten hat.

Wenn Menschen in Deutschland Asyl beantragen, und sie zu Beispiel ein französisches Schengenvisum haben, ein spanisches, polnisches, finnisches oder aus irgendeinem anderen Land, werden sie meist in dieses Land zurückgeschickt. Und das ist dann keine Abschiebung, weil der Antragsteller auf EU-Gebiet bleibt. Dieses Verfahren existiert schon seit vielen Jahren. Und genau das ist mit einem Teil der Russen passiert, die nach dem Beginn der Mobilisierungskampagne in der Bundesrepublik Asyl mit Visa anderer Länder beantragt hatten. Es gab keine Sonderregelungen für Russen, die vor der Mobilmachung geflohen waren. Generell kann man sagen, dass es sich nicht lohnt, sich vor einer Abschiebung nach Russland aus einem EU-Staat zu fürchten, weil das praktisch nicht passiert.

Sind Menschenrechtsaktivisten mit deutschen Behörden im Gespräch darüber, wie man die Chancen für Menschen, die Russland im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine verlassen wollen, vergrößern kann?

Natürlich. Alle Hilfsinitiativen und alle Menschenrechtsorganisationen versuchen, sich auf verschiedenen Ebenen für die Interessen dieser Menschen einzusetzen. Alle haben eigene Kontakte. Die Zusammenarbeit aller Organisationen bringt auch Ergebnisse. Hilfe für Asylbewerber leisten deutsche Menschenrechtsorganisationen, die schon lange auf diesem Gebiet tätig sind. Zurzeit gibt es keine russischen Initiativen oder Organisation, die sich ausschließlich mit politischem Asyl für Russen in Deutschland beschäftigen. Meistens geht es bei ihnen um eine Interessenvertretung zu verschiedenen Themen – Asyl, humanitäre Visa, weil beides mit dem Schutz von Verfolgten zusammenhängt.

Neben unserem Engagement für humanitäre Visa sprechen wir mit Vertretern des Bundestags darüber, dass es für Deserteure sehr schwierig ist, überhaupt nach Deutschland zu kommen. Denn sie haben meistens gar keine Reisepässe. Viele stehen auf internationalen Fahndungslisten, sie brauchen Hilfe. Es ist absolut notwendig, die Menschen aus den Ländern herauszuholen, in denen ihnen wirklich eine Abschiebung nach Russland drohen kann.

Wie reagieren die deutschen Behörden auf diese Informationen?

Illustration: Alisa Krasnikova

Verschiedene Politiker und Vertreter verschiedener Parteien haben sich die Probleme angehört und versuchen, über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken. Aber es ist wichtig zu wissen, dass Deutschland nicht innerhalb weniger Tage oder Wochen Gesetze oder Asylverfahren ändern kann. In diesem Land brauchen bestimmte Prozesse viel Zeit, weil es notwendig ist, dass alle zustimmen, dass alle Aspekte des Problems beleuchtet werden. Deshalb gibt es hier keine Lobbyarbeit mit schnellem Ergebnis.

Und dass Deutschland alle aufnimmt, die der Mobilmachung entkommen sind, kann keine halbwegs klar denkende Menschenrechtsorganisation fordern. Das ist unmöglich, weil wir hier von mehreren Hunderttausend Menschen sprechen. Das deutsche Sozialsystem hat schon mit der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten eine große Last auf sich genommen. Die Übergangslager sind voll, die sozialen Ressourcen in den Bundesländern sind nicht unendlich. Viele ukrainische Geflüchtete fahren in die Ukraine zurück, weil sie in Deutschland keine adäquate Unterkunft und Unterstützung finden. Wir verstehen sehr gut, dass es in dieser Situation merkwürdig wäre, anzunehmen, dass Deutschland bereit wäre, noch Hunderttausende weitere Menschen aus Russland aufzunehmen. Und das nur auf Grundlage dessen, dass diese Menschen theoretisch unter die Mobilmachung fallen oder eine Vorladung bekommen haben.

Was raten Sie im Hinblick auf eine weitere Welle der Mobilmachung?

Zuallererst sollte man sich einen Reisepass besorgen, ein beliebiges Schengenvisum (Spanien, Frankreich, Griechenland), sich einen Plan machen und Geld zusammenkratzen, weil es keine einzige Organisation gibt, die vor der Mobilmachung Flüchtenden finanziell über einen mehrmonatigen Zeitraum helfen könnte. Man kann Russland verlassen, versuchen, in einem visafreien Land Fuß zu fassen, und aufmerksam alle existierenden Visaarten prüfen – die verschiedenen nationalen Visa der Bundesrepublik Deutschland und anderer europäischer Länder. Wenn man einen gefragten Beruf hat, Berufserfahrung oder einen Studienwunsch, ist das besser, als Asyl zu beantragen. Nur wegen der Mobilmachung ein Asylverfahren zu durchlaufen, kann ein Jahr lang dauern – ein Jahr voller starker psychischer Belastung –, an dessen Ende dann vielleicht die Ablehnung steht.