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Wenn Puppen morden

Achtung, ein Schauermärchen! Das Berliner Theaterkollektiv Lovefuckers zeigte in der Schaubude „The Truth about Helga“.

Von Katja Kollmann

Am Schluss wird Helmut zu Helga. Sanft ziehen die PuppenspielerInnen ihrer Puppe die Helga-Maske über. Helmuts große blaue Augen verschwinden in den Augenhöhlen des Helga-Geistes. Helmut hat Helga umgebracht. Aber die disfunktionale, zerstörerische Zweierbeziehung nimmt nach dem Mord erst richtig an Fahrt auf. Für „The truth about Helga“ hat das Berliner Theaterkollektiv Lovefuckers eine über hundert Jahre alte Geschichte ausgegraben. In Deutschland wurden „Die Leiden des Prinzen Sternenhoch“ erst 1989 veröffentlicht. Ladislav Klima schrieb den Roman einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, publiziert wurde er aber erst 1928, kurz nach seinem Tod. Durch diesen Roman wurde der tschechische Schriftsteller und Philosoph, ein Vorgänger der Existenzialisten, in seiner Heimat einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

Bei Ladislav Klima steht Helga für die Personifizierung der dämonischen Weiblichkeit. Erwähnt wird bei ihm aber auch ihre Gewalterfahrung mit einem Vater, einem Militär. Lovefuckers erzählen die Geschichte zuerst aus der Perspektive von Helmut, dem Prinzen Sternenhoch, dann aus der Perspektive des Vaters. Es sind die Projektionen dieser beiden Männer auf Helga. Die ist zu diesem Zeitpunkt, kurz vor der Heirat mit Helmut, 17 Jahre alt. Wir sehen Helga zuerst nur als Schattenporträt auf dem Stoff, der in der Schaubude die ganze Bühne überspannt und nach oben gezogen ist. Später sehen wir sie als Großpuppe. Eine Stimme bekommt sie erst nach der Heirat. Aber dann erobert sie immer mehr die Bühne, akustisch wie räumlich, bis sie als Geist ihren Ehemann dominiert und am Ende terrorisiert.

Lovefuckers sehen in Klimas Schauermärchen, in dem Helga ihr Kind und ihren Vater ermordet, das Potenzial für eine Emanzipationsgeschichte. Sie denken die Geschichte weiter und lassen Helga ausgedehnte Reisen machen. Die Puppenspielerin sitzt hier mit der Puppe vor der Stoffwand, auf der die Umrisse von wilden Tieren durch eine zarte Wüstenlandschaft springen. Sie denken Helga auch in ihrer sexuellen Orientierung weiter, und so ist eine der berührendsten Szenen die, als Leonie Euler und Emilia Giertler die Großpuppe in ihre Mitte nehmen und beginnen, ihr zärtlich über die Wange und dann übers Knie zu streichen. Helga, die Puppe, schaut erstaunt an sich herunter und sucht immer wieder den Blickkontakt zu den beiden Spielerinnen. Hier wird eine selten erfahrene Intimität zwischen Puppe und SpielerInnen hergestellt, die auf Gleichwertigkeit beruht.

Dem gegenüber stehen Szenen, in denen die SpielerInnen bewusst als Erfüllungsgehilfen der Puppen dargestellt werden. So steht die Großpuppe Helmut mit seinem Spieler und Sprecher Maximilian Tröbiger nicht selten im direkten Dialog und gibt schon mal Befehle aus.

Ivana Sajević, die auch für die Regie verantwortlich zeichnet, baut Puppen mit großer Ausdruckskraft. Es sind fein modellierte sprechende Gesichter, die einen in den Bann ziehen. Helmuts Gesichtsausdruck ist per se ein überraschter, etwas naiver, Helga hat einen entschiedenen Zug um den Mund und stechende Augen. Tröbiger, Euler und Giertler leihen den Puppen mehr als ihre Stimme. Sie laden sie buchstäblich energetisch auf. Über allem wummert immer und unheilvoll die Lifemusik von Leah Buckareff und Aidan Baker, die neben der Bühne am Mischpult und an der Elektrogitarre sitzen. Sie sind auch als Duo Nadja bekannt.

Irgendwann hat Helga sechs Gesichter. Euler und Giertler jonglieren dazu mit Masken auf dem Kopf und an den Händen. Helmut fällt in Ohnmacht, steht wieder auf, sucht immer noch die eine Liebe, in die er sich verbissen hat. Jetzt streifen sie ihm die Maske über den Kopf.

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