das lieblingsstück (VI)
: Niedergang und Welttheater

Das Beste zum Ende des Kulturjahres im Norden: Lars Jessens „Mittagsstunde“, die Verfilmung von Dörte Hansens Nordfriesland-Bestseller, ist ein verdienter Arthouse-Erfolg

Zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder, das erzählte mir vor ein paar Wochen ein Freund, habe er einen Film im Kino gesehen: „Mittagsstunde“. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich den Spielfilm von Regisseur Lars Jessen bei Kinostart im September verpasst, und so spielten mein Freund und ich dieses eine Mal vertauschte Rollen: Schwärme ich sonst immer ihm von neuen Filmen vor, war nun er es, der gar nicht aufhören wollte, diese gelungene Buchadaption zu loben – den verfilmten Roman von Dörte Hansen hatte er nämlich auch gelesen.

Nun ist dieser Freund selbst in einem kleinen Dorf in Norddeutschland aufgewachsen und gehört zu der gleichen Generation wie der Protagonist von Buch und Film, Ingwer Feddersen. Der „Mittagsstunde“-Stoff erzählt also auch von ihm selbst, und so kann mein Freund die Authentizität der da gezeigten Dorfwelt bestätigen. Ich hingegen, norddeutscher Stadtmensch, verstehe zwar das Plattdeutsche der Be­woh­ne­r*in­nen des fiktiven nordfriesischen Dorfs Brinkebüll, und das auch ohne die Untertitel, mit denen diese Fassung des Films immer noch in den Kinos läuft. Darüber hinaus aber muss ich glauben, was Hansen beziehungsweise Jessen mir so alles erzählen und zeigen.

Mittagsstunde. Regie: Lars Jessen. Mit Charly Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmahl u. a. D 2022, 97 Min.

Vorstellungen und Kinos unter: https://tickets.mittagsstunde-film.de

Aber darum geht es im Kino natürlich auch: Der Erzählkosmos eines Films muss in sich schlüssig und glaubwürdig sein und möglichst interessant; auf dieser Bühne wird dann Welttheater gespielt. Beides ist in „Mittagsstunde“ gelungen, einem Film mit zwei Hauptdarstellern: Da ist das erwähnte Brinkebüll und eben Ingwer Feddersen, eines seiner letzten Kinder, gespielt von Charly Hübner.

Auf einer Ebene handelt „Mittagsstunde“ vom Niedergang des Landlebens im Verlauf von vier Jahrzehnten: Der Film zeigt Brinkebüll in den 1960er-Jahren als ein Dorf, in dem sich seit mehr als hundert Jahren kaum etwas verändert hat. Familie Feddersen betreibt seit Generationen die Dorfkneipe, und vom jüngsten Spross Ingwer wird erwartet, dass er diese Tradition weiterführt. Aber das Dorf verändert sich: Der riesige Baum im Zentrum wird gefällt, weil die Straße begradigt werden soll, und mit der Flurbereinigung verliert das Dorf immer mehr an Charakter, sodass es in den 2010er-Jahren mit vielen leerstehenden Häusern und Läden wie tot wirkt.

Witz statt Selbstmitleid: „Mittagsstunde“ ist kein schwermütiger Film

Hierher nun kommt Ingwer Feddersen zurück, um sich um seine Großeltern zu kümmern. Ingwer ist aber nicht Kröger geworden, hochdeutsch: Wirt, sondern Archäologie-Professor in Kiel; in Brinkebüll nun erforscht er auch Vergangenheit, die eigene: Die Oma ist dement, der Opa bräsig, und Ingwer erträgt das Leben mit den beiden unbequemen Alten mit stoischem, sehr norddeutschem Phlegma. Hübner ist wie geboren für diese Rolle. Schon in „Magical Mystery“ hatte er gezeigt, wie gut er den verlässlichen, bodenständigen Kumpel spielen kann: eine norddeutsche Variante von Tom Hanks. Als Ingwer nun durchlebt er den Niedergang von Dorf und Familie ohne jedes Selbstmitleid, dafür oft witzig, und so ist „Mittagsstunde“ auch kein schwermütiger Film. Stattdessen erzählen Hansen und Jessen mit einer souveränen Mischung aus Melancholie und norddeutscher Coolness – wohl auch deshalb ist es mit mehr als 300.000 Ki­no­be­su­che­r*in­nen der erfolgreichste Arthousefilm des vergangenen Jahres. Wilfried Hippen