Verzweiflung und Mordlust

EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker sieht die Schuld am Scheitern bei Tony Blair – und ist grausam enttäuscht von der fehlenden Solidarität in der EU

„Europa steckt nicht in der Krise. Europa steckt in einer tiefen Krise“

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Das letzte Bild der Nacht zum Samstag taugt als Vorbote für die nächsten sechs Monate: Ein ausgerissener Zettel im Vorhof des Brüsseler Ratsgebäudes, auf den hunderte von Schuhen trampeln, der beim großen Exodus von einem Kamerastativ kurz mitgeschleift wird und dann unbeachtet liegen bleibt. Der Zettel ist mit Zahlen übersät. Noch am späten Abend hatten sich Köpfe aufgeregt über ihn gebeugt. Auf welcher Höhe wird der Britenrabatt bis 2013 eingefroren? Bei 4,6 oder bei 5,2 Milliarden pro Jahr?

Wochenlang studierten in Brüssel Politiker, Finanzfachleute und Journalisten Zahlenkolonnen und Einzelposten, verglichen die Forderungen von Rat, Kommission und Parlament, spielten Varianten durch und rechneten eingeplante Summen in politische Projekte um. Solche Einzelheiten interessieren nun keinen mehr. Die Arbeit vieler Monate – Altpapier. Ähnlich der Stimmung nach dem geplatzten Verfassungsreferendum in Frankreich Ende Mai legt sich zum zweiten Mal Lähmung wie eine dicke schwarze Decke über die europäische Hauptstadt.

Das Gefühlsreservoir von Luxemburgs Ratspräsidenten Jean-Claude Juncker, so hatte man Freitagnacht geglaubt, sei ausgeschöpft. Grauer, erschöpfter, verzweifelter kann ein Mensch nicht mehr aussehen. In der Nacht zum Samstag war klar: Es gibt eine Steigerung – Mordlust.

Juncker hat – und das macht ihn in der Welt der Bedenkenträger außergewöhnlich und trägt ihm so viel Sympathien ein – die Begeisterungsfähigkeit eines 15-Jährigen. Doch seine Wut und Enttäuschung kann er ebenso schlecht im Zaum halten wie seine Euphorie. Zunächst sagt er, noch halbwegs Contenance bewahrend, den Satz für die Eilmeldung der Presseagenturen und die Schlagzeilen der Sonntagszeitungen: „Europa steckt nicht in der Krise, es befindet sich in einer tiefen Krise.“

Dann aber kommt er zum Kern, der für ihn Europa ausmacht, zur Solidarität. „Geschichte und Geografie haben sich wieder gefunden, und wir sind nicht bereit, für diesen historischen Moment das Geld aufzubringen. Ich habe mich geschämt“ – und er beschreibt mit zuckenden Mundwinkeln, den Tränen nahe, wie in der Nacht Marek Belka und Jiří Paroubek, die Chefs der neuen Mitgliedsländer Polen und Tschechien, aufstanden, um im Namen der Neuen zu erklären, sie seien zu finanziellen Einschnitten bereit. Am Geld solle Europa nicht scheitern.

Frankreichs Präsident Chirac, der keinerlei Probleme damit hat, Europa am Geld scheitern zu lassen, erkennt propagandistisches Potenzial, wo es sich bietet. „Hier hat der traditionelle Reflex der europäischen Familie versagt“, dröhnt er in Richtung Tony Blair, der aus französischer Perspektive ohnehin nur ein angeheirateter Vetter dritten Grades ist. Als hätte nicht vor zwei Wochen in Frankreich eine beispiellose Polemik gegen Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten, gegen den „polnischen Klempner“, die Verfassung vom Tisch gefegt, fragt sich der Präsident der Republik, „welchen Begriff von Anstand diejenigen haben, die immer noch Nein sagen, während die armen Mitgliedsländer zu Opfern bereit sind“.

Es sind die Briten, denen das Gefühl für Anstand fehlt, darin ist sich das „alte Europa“ in dieser Nacht mit den armen Neulingen ganz einig. Das kleine Detail, dass auch Schweden, Finnen und Holländer die Struktur der europäischen Ausgaben grundsätzlich in Frage stellen und ein Veto gegen den Luxemburger Kompromiss angedroht haben, wird in der Stunde großer Emotionen übersehen.

Nicht von Juncker. Die Frage, ob sich das Europa des 20. Jahrhunderts, das seine Identität aus Muttermilchprämien bezieht, überlebt habe und was an seine Stelle treten soll, müsse in den kommenden Jahren durchaus diskutiert werden, gibt Juncker zu. Wer aber eine solche Diskussion in der Gipfelnacht, gegen den Widerstand fast aller anderen Teilnehmer, vom Zaun breche, der wolle keine Einigung. Seinem Nachfolger im Amt des Ratspräsidenten habe er nichts mehr zu sagen.

Kommenden Donnerstag, wird Blair vor dem Europäischen Parlament das Programm für die nächsten sechs Monate vorstellen. Juncker wird nicht anwesend sein – er habe am Luxemburger Nationalfeiertag Wichtigeres zu tun. Eine diplomatische Ohrfeige für den Blockierer von der Insel, die von den übermüdeten Journalisten mit ganz und gar unüblichen Bravorufen quittiert wird.