Umnachtet und übernächtigt

Das inklusive Theater Thikwa nähert sich in „Trotz dem Hölderlin!“ dem Außenseiter-Schriftsteller. Eine poetische Reise ins „Offene“

Von Katja Kollmann

Am Anfang steht ein Stimmengewirr. Hölderlin spricht aus jedem und jeder in der Studiobühne des Theater Thikwa. Eine weibliche Stimme fordert mit geduldiger Penetranz: „Weißt du denn, was dir fehlt?“ Heidi Bruck schraubt ihre Stimme am Satzende nach oben, ihre Hand schnellt dazu senkrecht in die Höhe: Sie bohrt ihre existenzielle Frage buchstäblich in den Raum.

„Trotz dem Hölderlin!“ (Regie: Silvina Buchbauer) heißt die neue Stückentwicklung, die letzte Woche im inklusiven Theater Thikwa Premiere feierte. Eine empathische Annäherung an den Total-Außenseiter Friedrich Hölderlin. In der Kreuzberger Fidicinstraße lässt man ihn zu Wort kommen. Durch seinen Roman Hyperion, seine Turmgedichte und einen Liebesbrief. Erklärt wird nichts an diesem Abend. Infos zu Hölderlin kann man sich im Programmheft abholen. Erst Anschauen und danach ins Programmblatt schauen, das macht definitiv Sinn, da das Weglassen von jeglichem historischen Kontext hier einen wirklichen Mehrwert darstellt: Die Zeitlosigkeit von Hölderlins Gedanken wird dem Zuschauer schnell offenbar.

Wenn Torsten Holzapfel Hölderlins Gedichte rezitiert, platziert er jedes Wort behutsam, füllt es mit Energie und macht dann eine Pause. Es sind Naturbeschreibungen eines Menschen, der mehr als 35 Jahre lang seine Umgebung aus einem Tübinger Turmfenster betrachten musste. Hört man dem 1843 Verstorbenen zu – über das Medium Torsten Holzapfel –, beeindruckt Hölderlins unbedingter Wille, zur Essenz vorzudringen. Sein extrem sensibler Umgang mit der deutschen Sprache fällt auf.

“Wir gehören einander“, liest Martin Clausen aus Hölderlins Brief an Susette Gontard. Ein Ausdruck, der längst aus unserem Sprachgebrauch verschwunden ist. Man hält intuitiv inne und hört seine Muttersprache neu. Boris Bergmann sitzt, als Reminiszenz an den Klavier spielenden Zwangseremiten Friedrich Hölderlin, am Flügel. Kompositionen von Franz Liszt, Johann Sebastian Bach und von Bergmann selbst tröpfeln vom rechten Bühnenrand in den Raum. Der zweite Flügel wird sofort nach Vorstellungsbeginn von den SchauspielerInnen zerlegt. Es ist, als würden Klavierkastendeckel, Tasten, Hämmerchen und Beine frei im All rotieren. Dabei liegen sie nur stumm auf dem Bühnenboden.

Einer der poetischsten Momente des 90-minütigen Abends entsteht, als Martin Clausen in die vom Korpus losgelösten Tasten greift und sich die dazugehörigen Hämmerchen stumm bewegen. Und die vielleicht hintergründig-lustigste Szene wird geschaffen durch ein rasantes Wortspiel-Pingpong zwischen Heidi Bruck und Torsten Holzapfel/Hölderlin: „Du bist umnachtet.“ „Ich bin übernächtigt.“ Hast du überhaupt Tassen?“ „Ich habe viele Tassen …“ Unwillkürlich denkt man über Sprachbilder nach und über Hölderlin, für den ebensolche Zuordnungen langjährigen Freiheitsentzug bedeuteten.

Bruck wie Holzapfel haben eine Einschränkung und gehören zum Thikwa-Stammpersonal. Clausen springt als Schauspieler in vielen Gassen, schaut aber regelmäßig bei Thikwa vorbei. „Ich bin Hölderlin“ behaupten die SchauspielerInnen auf einmal unisono, um es wenig später zu widerrufen. Riki von Falken tanzt dabei. Irgendwann macht einer die Tür zum Hof auf, geht hinaus und versorgt die Zurückbleibenden mit Hölderlins ultimativen Ratschlag: „Komm ins Offene.“ Im Programmheft steht in leichter Sprache: „Im Stück schauen wir: Was für ein Mensch ist Hölderlin? Wir reisen in seine Welt.“ Danke fürs Mitnehmen. War spannend.