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Körper oder GeistDie Macht westfälischer Totleger

Warum bringen die Leute für sehr gutes Tennis mehr Bewunderung auf als für sehr gute Mathematik? Der Ethikrat hat nur Augen für seine Hühner.

Wo Hühner sind, ist eine Hackordnung – aber der Ethikrat ist nicht bereit, sich damit abzufinden Foto: Christophe Gateau/dpa

A ls ich vor ein paar Tagen am frühen Morgen von einer Party nach Hause radelte, hörte ich lautes Hämmern in dem kleinen Park neben unserem Haus. Als ich näher kam, sah ich den Ethikrat, umgeben von Brettern und einer Handvoll aufgeplusterter Hühner. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben.

„Guten Tag“, sagte ich, „werden Sie Selbstversorger, also zumindest im Eibereich?“. „Zuallererst sind wir Wissenschaftler, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende missbilligend. „Die Hühner sind Teil unserer Forschung zum Aufbau sozialer Hierarchien“. „Natürlich“, sagte ich. Ich hatte auf der Party zu viel getrunken, und da ich zunehmend weniger vertrage und vollständig aus der Übung bin, waren die Folgen unangenehm.

Ich versuchte, unauffällig Halt an einem Baum zu finden und betrachtete die beiden anderen Ratsmitglieder, die Maschendraht für einen Hühnerstall aufspannten. Der Ratsvorsitzende betrachtete mich: „Fühlen Sie sich nicht wohl?“. „Doch“, log ich. Bevor ich die Party verließ, hatte ich noch ein paar Minuten auf einem Stuhl gewartet, bis ich das Gefühl hatte, den Raum einigermaßen gerade verlassen zu können. Es war ohnehin niemand mehr in dem Zustand, das zu würdigen, aber es schien mir trotzdem wünschenswert.

„Warum ist das Konzept von Würde so oft an die Kontrolle über den eigenen Körper geknüpft?“, fragte ich den Ratsvorsitzenden. „Ist es das?“, fragte er mit jener Ausdruckslosigkeit, die möglicherweise Teil der sokratischen Gesprächsführung, möglicherweise aber auch Ausdruck großes Desinteresses war. „Vielleicht lässt sich das nicht halten, aber ist es nicht zumindest so, dass der Respekt vor körperlicher Leistung größer ist als der vor geistiger?“, sagte ich. „Einfach, weil nahezu jeder und jede sehen kann, dass Roger Federer sehr sehr gut Tennis spielt, weil man die Schönheit seines Spiels eher erkennt als die beim Beweis der Poincaré-Vermutung“. Ich war stolz, den Namen Poincaré gerade herausgebracht zu haben, auch eine körperliche Leistung, aber der Ethikratvorsitzende reagierte nicht darauf.

„Sehen Sie den Rosenkamm?“

„Es handelt sich hier um westfälische Totleger“, damit wies er auf die braun-schwarz getüpfelten Hühner, die auf ihren dürren großen Füßen durch das Gras staksten. Eines näherte sich ihm, der Vorsitzende ergriff es und setzte es auf seinen Schoß. „Sehen Sie den Rosenkamm?“, fragte er beifällig. Ich sah etwas, das einer verschrumpelten roten Nikolausmütze glich, aber der Vorsitzende achtete ohnehin nicht auf mich. „Wir prüfen, ob durch gezielte Intervention die Etablierung einer hierarchischen Ordnung verhindert werden kann“, sagte er und wies auf eine Wasserpistole neben sich.

Mich störte die hierarchische Ordnung zwischen meinen Fragen und denen des Rats schon lange, also tat ich so, als hätte ich ihn nicht gehört. „Es zieht sich doch durch, die Höherbewertung des Körperlichen“, sagte ich. „Alle finden es beeindruckend, wenn jemand Extrembergsteigen macht, weil man annimmt, dass diese Leute eine enorme Angst überwinden. Niemand findet es beeindruckend, wenn jemand sagt, dass zwei Fernreisen pro Jahr kein Menschenrecht sind, obwohl der Gegenwind ähnlich unangenehm ist wie der am Berg“.

Der Ratsvorsitzende betrachtete geistesabwesend, wie sich die beiden anderen Mitglieder weiter mit dem Maschendraht mühten. „Sie könnten ja auch ihre eigenen Strukturen in Hinsicht auf Hierarchiebildung überprüfen“, sagte ich gehässig. Doch da begann eine westfälische Totlegerin nach einer anderen zu hacken, und der Ratsvorsitzende ergriff die Wasserpistole und eilte zu ihnen.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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