Noch eins
Die Magie

PROST Diese Hitze! Nicht zum Aushalten! Höchstens im Biergarten. Bei Brezn, Marienkäferlarven und digitalem Geplauder. Vier Gschichten

War das Wetter schön und die Luft lau, nahm meine Mutter den braunen Weidenkorb zur Hand, füllte ihn mit Schalen voller selbst gemachtem Kartoffelsalat, Obazdem und sauer angemachtem Wurstsalat, legte einen Bund Radieschen dazu und bedeckte ihre kulinarischen Schätze mit einer blau-weiß karierten Tischdecke.

Ein Ritual, das mich begleitet, seit ich denken kann: Mit dem Rad fuhren wir an diesen magischen Ort, der uns gehörte wie unser eigener Küchentisch, aber auf wundersame Weise auch allen anderen Münchnern – den Biergarten. Dort breitete meine Mutter das Tuch im warmen Licht der untergehenden Sonne auf einem der langen Tische aus, während mein Vater in einiger Entfernung zwei Glaskrüge aus dem Schankregal nahm, sie unter fließendem Wasser in einem Becken ausspülte und sich anstellte, um auf die Füllung der Maßen zu warten.

Den Rest des Abends plauderten wir dahin, unsere sommerlich erhitzten Gemüter kühlten ab im Schatten der Kastanien, die ja ursprünglich gepflanzt worden waren, um das Bier in den Kellern darunter frisch und kühl zu halten. Unsere Stimmen verschwammen in einem fast sedierenden Geräuschteppich aus entspanntem Gemurmel, gelöstem Gelächter und dem Klingklong von aneinandergestoßenen Bierkrügen, wie er nirgendwo sonst zu finden ist. Es ist diese Magie der Verlässlichkeit und Kontinuität, die den Biergarten zeitlebens zu meiner Oase macht. Zu meinem Garten, den ich von Herzen gerne mit anderen teile. Marlene Halser

„Apfelschorle?“

Alles da: die Eiche, Biertische, Bierbänke – orange gestrichen. Eschenbräu – „joa mai“ – wird gezapft in diesem Berliner Innenhof. Männergruppen, Studentengruppen, Geschäftsleute ohne Schlips, Stimmengewirr.

„Ick hab mir dit bei Obi gekooft.“ Sie trinken Dunkelbraunes. „Ah, way back in the States.“ Sie trinken Goldbraunes. In einer Ecke sitzen ein dicker Mann, eine dicke Frau allein. Fragender Blick? Ein Nicken. „Weil meine Bänder schwach sind“, beendet die Frau den Satz und der Mann berichtet, dass Ameisen seine Blumenkästen eroberten und er die Duftgeranien ohne Wurzeln eingetopft hat. „Eine riecht nach Cola.“

„Wir haben Bayrisch hell, Dunkel und Weizen“, sagt die Kellnerin. „Apfelschorle?“ Es dauert, bis sie nickt. Eine Marienkäferlarve kriecht über den Tisch – schwarz mit hellroten Streifen. „We learnt about Switzerland in our German class.“ Daneben: „Kriegste ooch bei Obi.“ Eine zweite Marienkäferlarve kriecht über den Tisch und lässt sich, wie die vorherige, auf dem Finger in die Büsche tragen. „Unsere Strandkörbe sind umfallsicher. Deutsche Fertigung.“ Und „Prost“ – klirr, die Gläser überm Tisch der Männer werden angeschlagen. Noch ein Einsamer, der Platz sucht. Er setzt sich, schaut auf sein iPhone, „Weizen“. Eine Larve kriecht über den Tisch. Er zerquetscht sie. „Herrgott, das war doch nur ne Marienkäferlarve.“ „Was, so eklig sieht die aus?“ Waltraud Schwab

„Like it“

Der Biergarten an sich besteht aus einer nicht bedachten Aneinanderreihung hölzern-rustikaler Kommunikationseinheiten. Diese verfügen über keinerlei Rückenlehnen, sodass sich die Teilnehmer gezwungen sehen, alkoholische Getränke zu konsumieren, um ihrem Rückenschmerz Einhalt zu gebieten.

Die Art und Weise der Kommunikation an den traditionellen Biertischen hat sich jedoch weitgehend digitalisiert – wie jüngst an einem lauen Sommerabend im Prater zu beobachten war, einem riesigen Biergarten im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Anstatt Belanglosigkeiten, tiefsinnige Betrachtungen oder den neuesten Tratsch in klassischer Sender-Empfänger-Manier nach Ferdinand de Saussure zu betreiben, nehmen Gruppen von bis zu sechs Personen ihr jeweiliges Smartphone zur Hand, um ihre neuesten Apps zur Anwendung zu bringen und Fotos ihrer vor ihnen auf dem Tisch stehenden Kaltgetränke ins Netz zu stellen. Andere checken via mobilem Dating-Portal „Grindr“ die Homosexuellen-Dichte im Biergarten und verabreden sich mit dem Typen von der fünften Bank links neben dem Wurststand, anstatt mal den Mann neben sich einer näheren Begutachtung zu unterziehen: „Like it“.

Das Gute an der Post-Saussur’schen Android-Kommunikation im Biergarten: Die Anwohner haben endlich ihre Ruhe.

Martin Reichert

Der Rushdie

Meinen Salman-Rushdie-Moment hatte ich in einer Münchner Sommernacht im Hirschgarten, dem schönsten aller Biergärten, auch wenn das manch einer anders sehen möchte. Der Vergleich mit Rushdie hinkt, natürlich. Er war, in den späten Achtzigern, in einer existenziellen Lage, bedroht von der Fatwa Chomeinis, ich war heiter. Aber: Wir haben etwas gemein seit dieser Nacht. Rushdie und ich waren allein an Orten, die zauberhaft schon ohnehin sind, aber so richtig erst, wenn sie menschenleer sind und still.

Man hatte es Rushdie möglich gemacht, allein durch die Alhambra von Granada zu streifen. Recherchen für einen Roman. Über ihm nur ein Hubschrauber als Bewacher. Unten er, in diesem wunderbaren maurischen Palast über der Stadt. Wer jemals Schlange stand, um die Alhambra zu besuchen, und dann in einem Schiebestrom hindurchgewalzt wurde, weiß, wovon ich rede. Großartig, aber man sehnt Ruhe herbei.

Der Hirschgarten war überfüllt an diesem Abend. An einem Tisch trafen wir uns, alte Freunde, neue Freunde, flüchtige Bekannte – eine Mischung, die an einem Biergartentisch schnell zusammenwächst. Als sie nach und nach heiter gingen, blieb ich. Ich wollte Stille und wusste, dass ich nur auf sie warten musste. Bald war ich allein. Ohne Rushdies Hubschrauber. Dann kam ein Hirsch, gemächlich trottete er an den Zaun, der das Wildgehege vom Biergarten trennt. Nur er und ich. Bis er sein Haupt senkte, schnaubte und ging. Felix Zimmermann