Topfschlagen gegen die Polizei

KANADA 700 Festnahmen in einer Nacht: Die Studentenproteste in der Provinz Quebec weiten sich aus. Die Regierung hält mit Polizei und einem Notstandsgesetz dagegen

„Jetzt geht es um etwas ganz Fundamentales: um die Demokratie“

ROXANNE DUBOIS, STUDENTIN

AUS MONTREAL JÖRG MICHEL

Vijay Krishnan lebt in Montreal in Kanada. In seiner Heimatstadt ist zurzeit ein besonderes Schauspiel zu beobachten: Jeden Abend zwischen 8 und 9 Uhr ziehen tausende Menschen über die Straßen und Gehsteige seiner Nachbarschaft in Villeray und schlagen mit Kochlöffeln auf Töpfe und Pfannen. Viele von ihnen tragen einen markanten roten Aufnäher am Revers – das Symbol der Protestbewegung.

Über drei Monate schon demonstrieren zehntausende Studierende in der Provinz Quebec gegen die geplante Erhöhung der Studiengebühren. Was als Streik der Akademiker begann, hat sich längst zu einer breiten sozialen Bewegung ausgeweitet. Die Obrigkeit aber lässt die Knüppel sprechen. Mit brutaler Gewalt versucht die Regierung von Quebecs Premier Jean Charest die Proteste zu unterdrücken.

Nacht für Nacht setzt die Polizei Schlagstöcke, Schockgranaten und Tränengas ein. In der Nacht zu Donnerstag wurden allein in Montreal und Quebec City knapp 700 Demonstranten festgenommen – so viele wie noch an keinem Tag zuvor. Auf der Rue Saint-Denis im Zentrum Montreals wurden hunderte Studierende stundenlang von hoch gerüsteten Polizisten eingekesselt. Zwei Protestierende verloren durch die Tränengaseinsätze bislang ihr Augenlicht.

Ausgelöst wurde die Konfrontation durch die Pläne Quebecs, die Studiengebühren in den nächsten fünf Jahren schrittweise um 70 Prozent anzuheben. Für Studenten wie Krishnan ist das kaum zu bewältigen. Der 27-Jährige studiert Pflegewissenschaften am Dawson College in Montreal, doch für sein Studium hat er immer weniger Zeit. Jeden Tag muss er jobben, um seine Kredite zu bedienen. Das Studentendarlehen, den Bankkredit, die Kreditkarte für die laufenden Kosten. „Ich habe jetzt schon 20.000 kanadische Dollar Schulden“, sagt Vijay – umgerechnet etwa 15.300 Euro.

Wie Vijay Krishnan ergeht es vielen Studenten in Kanada. Zwei Drittel von ihnen können nur dank eines Darlehens auf die Hochschule. Am Ende haben sie dann zwar ihr Diplom in der Tasche – im Schnitt aber auch mehr als 27.000 Dollar Schulden. Die Studiengebühren sind in den letzten drei Jahrzehnten in Kanada etwa doppelt so schnell gestiegen wie die Inflation. Je nach Provinz müssen Studenten zwischen 2.600 und 6.600 Dollar im Jahr zahlen. Hinzu kommen die Kosten für Unterkunft, Essen und Lebenshaltung.

Vijay Krishnan findet das ungerecht und bestreikt daher seine eigene Hochschule. Über 170.000 junge Menschen machen mit. Es sind die längsten Studentenproteste in der Geschichte Kanadas. Mehr als die Hälfte der Universitäten dort sind geschlossen. Stattdessen harren die Studierenden jede Nacht auf den Straßen aus. Am 100. Tag der Proteste diese Woche waren allein in Montreal mehr als 100.000 Menschen unterwegs.

Ein Ende ist nicht in Sicht. Alle Verhandlungen sind bislang geplatzt. Vor ein paar Tagen schmiss die Bildungsministerin frustriert ihren Job hin. Jetzt droht die Lage zu eskalieren. Denn die Regierung will die Streikfront mit dem Notstandsgesetz „Loi 78“ brechen. Sie hat das Semester vorzeitig beendet und schränkt die Versammlungsfreiheit ein. Die Demonstranten müssen ihre Aktionen jetzt anmelden. In Montreal dürfen sie ihre Gesichter nicht mehr verhüllen. Aktionen, die den Hochschulbetrieb stören, können mit Geldstrafen bis zu 125.000 Dollar geahndet werden.

In der Nacht zum Donnerstag wurden hunderte Studenten wegen Verstößen gegen die Gesetze zu Strafbefehlen verdonnert. Die meisten betrugen etwa 600 Dollar. „Das hat die Lage dramatisch verschärft“, berichtet Roxanne Dubois vom kanadischen Studentenbund in Ottawa. „Jetzt geht es in Quebec um etwas ganz Fundamentales: um die Demokratie.“ Künstler, Intellektuelle und Musiker wie die Rockband Arcade Fire haben sich solidarisch erklärt. Globalisierungskritiker, Bürgerrechtler, frankofone Separatisten und Umweltschützer haben sich angeschlossen.

Die Studierenden gehen jetzt aufs Ganze – und setzen dabei nicht zuletzt auf die Unterstützung der Topfschläger von Villeray. „Die Regierung muss zurücktreten, wir brauchen Neuwahlen, und die Gebührenpläne und die Sondergesetze müssen weg“, sagt Vijay Krishnan. Bis es so weit ist, will er weiterdemonstrieren – und sich notfalls auch verhaften lassen.