Überraschend zivil

In seinem neuen Talk-Format „Das Bürgerparlament“ lässt der NDR heute ganz normale Leute übers Gendern diskutieren. Wider Erwarten wird daraus gar kein verbales Blutbad

Von Alexander Diehl

„Wir wollen reden“: So eröffnet Moderator Ingo Zamperoni die „heutige Sitzung des Bürger*innenparlaments“ im NDR-Fernsehen. Moment: „Bürger*innen“? Nein, eigentlich heißt das noch ganz frische Format für „Diskussionen auf Augenhöhe“ auch in Folge zwei ganz brav: „Das Bürgerparlament“, nicht gegendert (beziehungsweise so, dass es keinen Anstoß erregt). Die Titel-Spielerei bei Folge zwei nun ist einem der Themen geschuldet: „Gendern? Euer Ernst?“ ist die Sendung überschrieben. Weitere krawallverdächtige Gegenstände sind unter anderem „Klima-Kleber“ und die anstehende Fußball-WM in Katar.

Als wollte er die Stimmung im – entfernt ans britische Unterhaus erinnernde – Studio, zusätzlich anheizen wiederholt Zamperoni diesen Fehler-der-keiner-ist gleich noch mal: „Bürger*innen“. Um dann aber doch „unsere 20 Diskutanten“ zu begrüßen (von denen manche freilich gar keine Männer sind). Das ist ja das Konzept des NDR-„Parlaments“: Ganz normale Leute bestimmen einerseits vorab, worüber diskutiert wird. Und 20 von ihnen sitzen sich nun gegenüber, links und rechts von Zamperoni; wer etwas sagen will, steht auf und hat maximal 60 Sekunden, um sei­nen*­ih­ren Punkt zu machen. Ausdrücklich kein Expert*in­nentalk soll die Sache sein, keine der üblichen Po­li­ti­ke­r*in­nen­run­den, sondern, so Zamperoni: „Ihre Sendung“.

Zum derzeit so viel bemühten Thema Gendern macht nun ein 19-jähriger Schüler den Anfang: Ihn störe es nicht, sagt der Hamburger. „Ich glaube, dass Sprache sich entwickelt.“ Er wolle ja auch nicht sprechen müssen „wie Goethe und Schiller“. Ein Problem für viele Menschen erkennt hingegen ein Rentner aus Kiel im Hineinwachsen in eine neue Sprache: „Diese ganze Genderei“ – mit hartem G – „geht mir auf den Geist“, führt der 70-Jährige aus; er finde es aber trotzdem gut, dass seine Heimatstadt in der Verwaltungssprache gendere.

Eine 26-Jährige mutmaßt: Das eigentliche Thema sei doch die Ungleichbehandlung von Mann und Frau in ganz anderer Hinsicht. Und Diskutant Nummer vier, ein Schiffdorfer Schulleiter mit Migrationshintergrund, droppt dann endlich das Wort von der „Verhunzung der Sprache“, mutmaßt aber auch gleich, es handele sich wohl um ein „linkes Umerziehungsprojekt“, und verweist auf die in Umfragen erhobene Ablehnung.

Die Sichtbarkeit derer, die sich weder als Mann oder Frau definieren, die bedrohte Ästhetik der Sprache oder eventuelle Hürden beim Deutschlernen: Es sind vertraute Argumente, die diese ganz normalen Leute auffahren, aber es kann überraschen, wie zivil sie das tun. Ob es daran liegt, dass Schulleiter und Webentwicklerinnen, Schüler und Studentin hier keine Punkte für den nächsten Wahlkampf sammeln müssen? Vielleicht eine Empfehlung auch für andere Redaktionen: Einfach einmal weniger den krawalligen Ploß von der Hamburger CDU einladen, und einmal mehr tatsächlich dem Volk aufs sprichwörtliche Maul schauen?

Das Bürger*innenparlament: 21 Uhr, NDR Fernsehen