Termiten vor Amoklauf

Carlos Alberto Parreira ist schon zum dritten Mal Trainer der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft. Heute gegen Japan könnte sich entscheiden, ob er es noch länger bleibt

AUS KÖLN MATTI LIESKE

Mit dem Trainerstuhl bei der brasilianischen Nationalmannschaft ist es wie mit manchen alten Häusern im French Quarter von New Orleans. Kaum hat man es sich bequem gemacht, stellt man fest, dass alles voller Termiten ist und die gesamte Konstruktion jeden Augenblick zusammenzukrachen droht. Keiner weiß das besser als Carlos Alberto Parreira. Der 62-Jährige ist zum dritten Mal oberster Chef der Seleçao, seine erste Amtszeit ab 1982 dauerte gerade Mal acht Monate. Als er es nicht schaffte, die Copa America zu gewinnen, setzte man ihn vor die Tür. Was immer noch glimpflicher abging als sein Scheitern als Trainer von Saudi-Arabien bei der WM 1998. Da wurde er nach zwei Niederlagen mitten im Turnier gefeuert, während sich Verbandspräsident Prinz Feisal bei der „ganzen islamischen und arabischen Welt“ für das Versagen des Teams entschuldigte.

Auf der anderen Seite ist Parreira einer der erfolgreichsten Trainer der Welt, denn er hat nicht nur, wie sonst bloß Bora Milutinovic, mit Kuwait (1982), den Arabischen Emiraten (1990), Brasilien (1994) und Saudi-Arabien vier Teams bei Weltmeisterschaften betreut, sondern gewann während seiner zweiten brasilianischen Periode 1994 in den USA auch den Titel. Zu einem allseits beliebten Mann hat ihn das in der Heimat trotzdem nicht gemacht. Weltmeister gut und schön, dennoch warf man ihm vor, dass er zwar nicht ganz so defensiv wie sein Vorgänger von 1990, Sebastião Lazaroni, spielen ließ, aber doch zu defensiv; dass er den Rackerer Dunga im Mittelfeld spielen ließ, nicht aber den flamboyanten Rai, Bruder des vergötterten Socrates, und dass er dem damals 17-Jährigen Ronaldo keine Minute Einsatzzeit gönnte.

Parreiras Verdienste reichten dem Verband aber, um ihn vor zwei Jahren mit der verantwortungsvollen Aufgabe zu betrauen, 2006 die „Hexa“ nach Brasilien zu holen, den sechsten WM-Titel. Der Confederations Cup sollte eine Etappe auf diesem Weg sein, eine Gelegenheit zum Ausprobieren, eine Simulation des Ernstfalls. Auch deshalb hatte der Coach darauf bestanden, dass seine Besten nach Deutschland reisen und dem lieber urlaubenden Ronaldo dauerhaften Ausschluss aus dem Team angedroht. Nur die alternden Verteidiger Roberto Carlos und Cafú erhielten eine Verschnaufpause.

Doch was als fröhliches Muskelspiel zur Einschüchterung der Konkurrenz gedacht war, könnte sich plötzlich zum Stolperstein, zumindest für Parreira, entwickeln. „Wenn man drei Spiele verliert, weiß man nie“, hatte der Trainer jüngst geunkt, zwei hat er jetzt auf dem Kerbholz. Vor zwei Wochen die Demontage beim 1:3 im WM-Qualifikationsspiel gegen Argentinien, am Sonntag das 0:1 gegen Mexiko. Sollte heute eine weitere Schlappe gegen Japan dazu kommen, werden die Termiten Amok laufen und die Verbandsoberen ins Grübeln kommen.

Besonders schlecht dürften Parreiras Erläuterungen der Niederlage gegen Mexiko in der Heimat angekommen sein. Dass eine Mannschaft, „die so gut verteidigt wie die Mexikaner“ gegen jeden gewinnen könne, „auch gegen Brasilien“, mag man in Brasilien gewiss nicht hören. Da war er wieder: Parreira, der Defensivapostel, der seine Karriere bei der Seleçao 1970 beim WM-Gewinn als Konditionstrainer begonnen hatte. „Ob mit oder ohne Ball, sie haben sich toll bewegt“, setzte Parreira seine Elogen auf die Mittelamerikaner fort, die überhaupt kein Ende nehmen wollten. Frei übersetzt hieß das: „Seht her, ich habe ja immer gesagt, wie wichtig Verteidigung ist“, und es klang wie eine Antwort an Kritiker wie Pelé oder Socrates, der erst kürzlich wieder attraktiveren Fußball gefordert hatte.

Dabei ging unter, dass Brasilien gegen die taktisch perfekt eingestellten Mexikaner spielte, als habe man selbst überhaupt keine Taktik oder als hätte man eine und die Spieler hielten sich bloß nicht daran. Bis zum Schluss versuchten sie, sich mit kurzen Pässen durch die von mexikanischen Beinen wimmelnde Mitte zu spielen, die Flügel lagen brach, vom alten Außenspiel eines Cafú oder Roberto Carlos war nichts zu sehen. Auch deshalb wird Parreira heute wohl deren Ersatzleute Gilberto und Cicinho auf die Bank setzen, vermutlich auch Zé Roberto und Emerson sowie den ein oder anderen aus seinem müden Edelquartett Ronaldinho, Kaká, Robinho, Adriano. Ein Punkt wird dringend gebraucht gegen Japan, um ins Halbfinale zu kommen. Sollte dies misslingen, kann es gut sein, das Carlos Alberto Parreira zumindest nicht mit Brasilien nächstes Jahr zur WM nach Deutschland kommt.