Mein Bezirk!
: Bad in der Menge

In der Liste der besten Freunde ist H. nach hinten gerutscht

Es ist Pfingstsonntagvormittag am Blücherplatz und total schön. Man hört Karussellgeräusche, Stimmen, die irgendetwas rufen. Vögel. Lautsprecherproben, Trommeln, Gesang, Lautsprecherdurchsagen auf Portugiesisch und Spanisch von der lateinamerikanischen Bühne, die vielleicht dreißig Meter von meinem Balkon entfernt ist. Von weitem auch die ersten Festwagen vom Karneval der Kulturen.

Drei Tage ist Urlaub und ich bin ein bisschen sauer auf H. Die letzten 10 Jahre waren wir immer auf dem Karneval gewesen. Der Karneval der Kulturen war ein Freund, der Geburtstag hat; es war eine Ehrensache, ihm zu gratulieren. Die Homebase war bei mir. Wir saßen zu Hause, hatten gekifft, getrunken und Kekse gegessen und waren dann auf den Karneval gegangen. Immer. 10 Jahre lang. Die Mittenwalder Straße hoch, die Gneisenaustraße, Hasenheide bis zum Hermannplatz und wieder zurück. Man traf Leute, redete, trank. Dann wieder nach Haus und später auf das Fest am Blücherplatz. Es war immer schön.

Die einzelnen Wagen waren dabei nicht so wichtig. Man lief hinter dem einen oder anderen; schaute in tausend Gesichter, nahm ein Bad in der Menge. Doch diesmal war H. zu Hause geblieben – schlimmer noch: Er war aufs Land gefahren, obgleich er gar keine Erholung brauchte. Der Niedergang hatte sich im Vorjahr schon angedeutet, als H. die meiste Zeit in meiner Wohnung geblieben war, um mir Briefe zu schreiben. In der Liste meiner besten Freunde ist er nun einen Platz nach hinten gerutscht. Egal.

So steh ich eben mit anderen Freunden irgendwo auf der Gneisenaustraße. Wir trinken, reden und rauchen zusammen. Hinter dem letzten, von der Firma „Chronic – Vodka-Liqueur with finest swiss hemp“ gesponserten Wagen tanzen ein paar tausend, meist schwarze, Cannabisfreunde. Alles ist super. Ich liebe meinen Bezirk. DETLEF KUHLBRODT