Die Direktorin will ihr Leben zurück

Irene Bignardi hat aus dem Filmfestival von Locarno ein A-Festival gemacht – mit schwierigem Resultat. Jetzt hat sie angekündigt, dass sie ihren Vertrag nicht verlängern wird

Es sei wunderschön, ein Filmfestival zu leiten, sagte Irene Bignardi schon in einem Interview im Jahr 2003, aber es sei auch etwas, das andere Teile des Lebens zerstöre. Als Direktorin werde sie deshalb nur so lange in Locarno bleiben, wie es ihr die geistige und physische Gesundheit gestatte. Nun hat sie mit Bedauern ihren Rücktritt eingereicht, es seien fünf schöne, aber auch ermüdende Jahre gewesen: „Ich will mein Leben zurückhaben: die Familie, den Sohn, die Katze, die Bücher, das Reisen ohne direktorialen Auftrag.“

Diese Entscheidung kommt nicht überraschend, doch die persönlichen Gründe sind von der harten politischen Realität kaum zu trennen – die Leitung von Locarno ist ein hartes Brot. Eingeklemmt zwischen den zwei großen europäischen Festivals in Cannes und Venedig, gelingt es Locarno immer seltener, die guten Filme an den Lago Maggiore zu holen. Auch ist die Infrastruktur des Ortes zu schlecht, Locarno hat beispielsweise keine Spitzenhotels, in denen die Stars absteigen würden. Umgekehrt passt ein Festival in der Hoch- und Badesaison den Hoteliers sowieso nicht. In der Schweiz mit ihren knapp 7,5 Millionen EinwohnerInnen gibt es zudem weder einen attraktiven Markt für Filme, noch ist die Filmproduktion signifikant.

Das sind für jeden Direktor, jede Direktorin extrem schwierige Bedingungen. Trotzdem hat sich das Festival unter Irene Bignardi stetig vergrößert, das belegen sowohl das Budget als auch die Zuschauer- und Filmzahlen. Sie etablierte Locarno als A-Festival, das heißt als Veranstaltung mit einem internationalen Premieren-Wettbewerb. Die Vorgänger hingegen setzten auf Spezialisierung: Vor Bignardi wurden nur der erste, zweite oder dritte Film eines Regisseurs, einer Regisseurin in den Wettbewerb aufgenommen, egal ob er schon auf einem anderen Festival gelaufen war. Diese hausgemachte Veränderung setzte Bignardi unter extremen Konkurrenzdruck.

Ihr Heil suchte die ehemals engagierte Journalistin und Mitbegründerin der Zeitschrift La Repubblica in der Politisierung des Festivals. Sie initiierte eine Human-Rights-Reihe, in der engagierte Dokumentarfilme ihren Platz finden sollten. Doch gerade hier erdrückte die Masse der gezeigten Produktionen die Qualitäten. Die Filme aus nahezu jedem Elendswinkel der Welt entwarfen eher einen Kramladen der Globalisierung, als dass sie eine Auseinandersetzung forderten. Als „Porto Alegre der siebten Kunst“ bezeichnete die Westschweizer Tageszeitung Le Temps das Festival.

Ein Profil für das Festival zu finden, das wird für den Nachfolger Bignardis die zentrale Aufgabe sein. Der Geschäftsführer des Festivals, Marco Solari, betonte, für den Job komme nur eine Person von „internationalem Rang“ in Frage. Gleichwohl wird in der Schweiz erst mal national „gewerweisst“ – ins Hochdeutsche übersetzt: gefragt, wer etwas weiß. Teresa Cavina, Bignardis rechte Hand, hätte Ambitionen. Und auch Jean Perret, Direktor des Festivals Visions du réel in Nyon, bekundete Interesse.

Irene Bignardi selbst steckt mitten in den Vorbereitungen für das diesjährige Festival, das Anfang August stattfindet. Zum Abschied wird sie gleich zwei Ehrenleoparden verleihen: einen an Wim Wenders, den zweiten an Abbas Kiarostami; die Retrospektive gilt Orson Welles. Und in Zukunft? Bignardi dementiert – es liege kein Angebot für ein Festival in Rom vor. Gegenüber der Berner Tageszeitung Der Bund freilich sagte sie, wenn in ein paar Jahren Cannes anfrage, dann überlege sie es sich vielleicht. VERONIKA RALL