Der Kongress der Lebenden Toten

Was passiert, wenn Splatter-Movie-Fans und Kino-Theoretiker aufeinander treffen? Der Bremer Horrorfilm-Kongress sorgt ab heute für atemberaubende Begegnungen. Robert Best und Mitveranstalter Benjamin Moldenhauer präsentieren ein mögliches, obgleich unwahrscheinliches Szenario

Drehbuch für einen Ultrakurzfilm von Robert Best
und Benjamin Moldenhauer

ORT: Bremen, Veranstaltungszentrum Paradox, Bernhardstraße 12

ZEIT: Später Nachmittag, Frühsommer

SZENE 1

Vorspann, minutenlang schwarze Leinwand, Musik: Louis Armstrong, „What a wonderful world“. Dann Musik aus. Aufblende: Podest, Rednerpult, Schwenk auf ReferentInnen, VERANSTALTER, REGISSEUR, dann den gut gefüllten Saal. Gedämpftes Licht, Gelbfilter. Nervöses Rascheln, Popcorn, Tuscheln. Zoom hinters Rednerpult auf VERANSTALTER: erst Schuhe, dann wie er sich die schwitzenden Finger an der Hose abstreift, Hinterkopf, 180-Grad-Wende, Spotlight, sehr grell).

VERANSTALTER (kneift Augen zusammen, leicht zittrig:) Meine Damen und Herren, liebe Freunde, ich darf Sie ganz herzlich zum ersten „On rules and monsters“-Kongress begrüßen.

(Atmet tief ein, Stille, bügelt sein Skript auf dem Pult mit den Handflächen:) „Bedenkt man es mit einigem Mut, so ist unsere Welt eine geworden, in der Angst und Gleichgültigkeit vorherrschen“, schreibt Elias Canetti.

(Raunen im Rund.)

Wenn das stimmt, ist das Horrorgenre der adäquate Ort künstlerischer Auseinandersetzung mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Gewalt, die an die Peripherie verdrängt ist, wird vom Horrorfilm nach Hause gebracht, zurück ins Zent…

(Lauter Knall, eine Blutfontäne: VERANSTALTER sackt zusammen. Kreischen und Tumult im Auditorium. Schwenk zur Treppe neben der Bühne: Drei FINSTERLINGE kommen, kurz geschorene Haare, Holzfällerhemden. Während zwei Reste des VERANSTALTERS mit eisernen Haken zur Seite schaffen, tritt der dritte ans Mikro. Zoom auf Oberkörper, Gesicht.)

FINSTERLING: Bitte bleiben Sie ruhig, es ist alles unter Kontrolle!

(Zieht eine vorbereitete Erklärung aus der Tasche, räuspert sich, liest mit kratziger Stimme:)

Der Untergang des Abendlandes, an den die verräterischen Führer unseres Landes uns gewöhnen wollen, ist kein unabwendbares Schicksal.

(Macht eine Pause, mustert das Publikum scharf. Zwischenrufe: Was soll das, Das ist doch unerhört! Das ist Zensur, was sie fordern! FINSTERLING fährt unbeirrt fort.) Die Apologeten der medialen Gewalt, diejenigen, die unsere Kinder 24 Stunden am Tag Gewaltpornos und libertärer Verstörung aussetzen, verstehen selbst keine andere Sprache als…

(Hustet, seine Augen weiten sich. Mit einem hässlichen Knacken öffnet sich sein Brustkorb. Ein Greifvogel ähnliches Wesen bricht daraus hervor, fliegt auf. Kamera folgt. Nachdem es mit seinen zwei messerscharfen Schwingen den anderen beiden Männern die Köpfe abgesäbelt hat, zieht es sich hinter die Bühne zurück, um Eier zu legen. Aufruhr im Publikum. Kamerafahrt durch den Saal: panische Flucht gen Ausgang, Schreie, Gezerr. Einige fallen. Knochen brechen. Blut fließt. Organmatsch an Turnschuhsohlen – alles schnell geschnitten. Letztes Bild: Türsteher in dunkler Kutte, Aufdruck: The saw is the law. Am Gürtel baumelt eine Kettensäge.)

TÜRSTEHER: Hey, nicht alle auf einmal. Sachte, sachte. Außerdem braucht’s Eintrittskarten für die Wirklichkeit da draußen.

(Zu einem Schwerverletzten:) Und so wie du aussiehst, bleibst du sowieso hier.

(Die Fenster zerbersten klirrend. Kamera aus TÜRSTEHER-Perspektive. Mehrere Nachbarn, zu Zombies mutiert, klettern in den Raum und beginnen, die Gäste abzunagen. Die Referenten haben inzwischen das Büfett entdeckt.

REFERENTIN (fröhlich kauend:) Kommunikation, so lautet ja auch meine These, erscheint auch hier offenbar nicht als befriedete Podiumsdiskussion mit anschließendem Schnittchenverzehr, sondern als das Gewaltverhältnis, das sie ist! (Triumphierend:) Ich hab’s doch schon immer gesagt!!

(Bricht röchelnd zusammen, unterm Büfett Begegnung mit dem REGISSEUR, der von einem Messer getroffen wurde. Er greift in die klaffende Wunde und zieht eine Niere hervor, die er ihr zeigt. Zoom auf seine Lippen.)

REGISSEUR (nicht ohne Stolz:) Der Fortschritt ist ein Sci-Fi-Thema, das des Horrorfilms ist die Natur! Ist sie nicht schön?

(Sein Kopf sackt zur Seite.)

(Schwenk, gedimmtes Licht: Die Tür der Damentoilette öffnet sich, heraus tritt WALTER BENJAMIN.)

WALTER BENJAMIN: Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole – Platz schaffen…

(Wirft die auf einem Tisch aufgebahrten Schriften des Filmtheoretikers Georg Seeßlen zu Boden, greift sich einen Wischmop, spricht dabei unbeirrt weiter.)

… und nur eine Tätigkeit: Räumen!

(Beginnt den Boden zu feudeln. Der TÜRSTEHER hat die Faxen endgültig dicke, greift zur Kettensäge. WALTER BENJAMIN spricht ihn freundlich an:) Haben Sie das Wortspiel bemerkt? Mop – Mob?

TÜRSTEHER: Jetzt reicht’s!

(Startet die Säge. Infernalisches Getöse, begleitet von seinem manischen Gelächter. Zwei Minuten später ist alles ruhig. TÜRSTEHER zündet sich eine Zigarette an. Aufleuchtende Glut. Dann Totale auf Leichen, suchender Schwenk. Zoom, langsam: überlebende STUDENTIN DER KULTURWISSENSCHAFTEN kriecht hervor und klettert durch ein zerbrochenes Fenster nach draußen.)

SZENE 2

Straße. Nieselregen, für die Jahreszeit deutlich zu dunkel, gelbes Licht, ‚Film-Noir-Atmo, Halbtotale.

TÜRSTEHER (Rauch ausstoßend:) Es ist vorbei.

STUDENTIN DER KULTURWISSENSCHAFTEN: Hat es dir gefallen?

(Er sieht sie verunsichert an. Sie zieht eine lange stählerne Nadel aus ihrem Haar und sticht sie ihm mit unerwarteter Kraft ins Herz.

TÜRSTEHER (schaut verdutzt:) Ich…

(Bricht zu ihren Füßen zusammen. Sie zieht die blutbespritzte Jacke aus und wirft sie weg. Ein T-Shirt mit der Aufschrift „final girl“. Kamerarundfahrt um STUDENTIN DER KULTURWISSENSCHAFTEN, während sie niederkniet und Finger in die Blutlache taucht. Endloses Zögern. Dann richtet sie sich auf, malt sehr langsam je einen roten Strich auf ihre Wangenknochen und Unterlippe.)

STUDENTIN DER KULTURWISSENSCHAFTEN: Was soll ich sagen? Fremd sind wir im Horrorfilm noch immer uns selbst.

(Dreht ab Richtung Schildstraße, um die Abendveranstaltungen des Kongresses im Lagerhaus zu besuchen. Das Vogelwesen schließt sich ihr watschelnd an. Dumpfe, eckige Rockmusik. Fade-Out.)