Chiles Not und der Reichtum des globalen Nordens

Theater, das an der Gegenwart wächst: Die Bremer Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“ widmet sich Chiles Weg zur Demokratie. Auf dem begegnen einem hanseatische Interessen

Die Fuente Alemana in Santiago war den Protesten 2019 ein Objekt des Anstoßes. Warum wohl? Foto: Carlos Figueroa/Wikimedia Commons

Von Jens Fischer

Das ist doppelt dumm gelaufen. Und was jetzt im Theater am Leibnizplatz in Bremen verhandelt und performt wird, muss das progressive Gemüt traurig stimmen, nach so viel Euphorie. Denn am 19. Dezember 2021 hatte sich ja bei der chilenischen Präsidentschaftswahl mit Gabriel Boric der Vertreter der linken Koalition Apruebo Dignidad gegen den Vertreter der rechten Koalition Frente Social Cristiano durchgesetzt und bekräftigt, das neoliberale Land in einen plurinational modernen Sozialstaat verwandeln zu wollen. Das Ziel: die gravierende Ungleichheit zwischen Arm und Reich mildern.

Top! Müsste das doch auch bedeuten, die Privatisierung etwa der Alters-, Kranken-, Bildungs- und Wasserversorgung zurückzunehmen. Eine entsprechend fortschrittliche Verfassung soll helfen und das noch aus der Zeit des Diktators Augusto Pinochet stammende Grundgesetz ablösen.

Unter der Präsidentschaft von Elisa Loncón, Vertreterin der größten indigenen Volksgruppe (Mapuche), erarbeitet daher eine Verfassunggebende Versammlung 388 Artikel. Sie würden den Chilenen sehr viele neue Rechte gewähren und eine umweltfreundliche sowie inklusive Politik konstituieren. Ein Traum. Aber der Entwurf wird mit über 60 Prozent der Stimmen am 4. September 2022 von der Bevölkerung abgelehnt.

Parallel hatte die Bremer Shakespeare Company die 18. Ausgabe der Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“ erarbeitet: Ihren bisherigen Rahmen sprengend blickt sie dieses Mal nach Chile, auf den weltweit einzigartigen Verfassungsentwurf als praktisch nutzbares Symbol der Befreiung vom Schatten der Militärjunta. Aber die Gegenwart machte die Verabschiedung von der Vergangenheit als dramatisches Ziel der Inszenierung zunichte.

Der Abend endet bedrückt kämpferisch: Das Ensemble steht auf der Bühne mit Spraydosen im Anschlag. Um neue Parolen gegen alte Probleme des Landes zu formulieren? Das gelingt leider nicht. Der Abend deutet Gründe fürs Scheitern der Verfassungsreform an, etwa dass die Regierung den Entwurf nicht gut kommuniziert und die Rechte mit Übertreibungen und Lügen die Wähler zur Ablehnung manipuliert habe.

Viele Chilenen schienen sich indes von so viel Neuerungs-Elan auch überfordert gefühlt zu haben. Mit diesem Wissen wirken die auf der Bühne vorgelesenen Jubelreden über den Konvent, die explizit aufgefächerte Geschichte der chilenischen Verfassungen, all die artikulierten Hoffnungen, die gesammelte Politikerrhetorik überholt.

Das ist halt die Gefahr, aktuell sein zu wollen. Die Aufführung „Chile – Auf dem Weg in eine neue Demokratie“ kommt wie ein ARD-„Brennpunkt“ in Theaterform daher, der Wochen zu spät den Zu­schaue­r:in­nen präsentiert wird. Der Blick zurück nach vorn wäre nun mit ganz anderen Fragestellungen akut.

Was die Produktion an der Schnittstelle zwischen Geschichtswissenschaft und Dokumentartheater allerdings nicht zu einem verlorenen Abend macht. Ausgangspunkt ist wie immer ein zweisemestriges Projekt des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen. Aktiv bis zum Schluss dabei seien acht Studierende gewesen, erzählt Leiterin Eva Schöck-Quinteros.

Recherchiert hätten sie in Bremen, etwa im Staatsarchiv oder in online zugänglichen Quellen Lateinamerikas. Mehr als 1.000 Dokumente seien zusammengetragen worden. Um daraus eine zweistündige Lesung zu fertigen, müsse das Material auf knapp 50 Seiten Text eingedampft werden. Das macht Regisseur Peter Lüchinger. Wer mehr wissen will, kann einen Materialband der Rechercheergebnisse erwerben, der in diesem Fall über 600 Seiten hat.

Dass auf der Bühne nicht Menschen, sondern nur Akten sprechen, stimmt zum Glück nicht. Immer wieder werden zwar Artikel aus taz, Spiegel, Die Zeit & Co., Twitter-Posts, BBC News, diplomatische Korrespondenzen, Behördenschriftverkehre, Prozessakten, Sitzungsprotokolle oder Reden im Nachrichtensprecherton vorgelesen. Gerade textlose Schau­spie­le­r:in­nen sitzen dann ausdrucks- und bewegungslos daneben, da es vom Konzept her tabu ist, aus dem Text aus- und in die Auseinandersetzung einzusteigen. Ab und an tanzen lediglich Lüchingers Füße unterm Tisch.

Als 1907 die Arbeiter der Salpeterminen gegen ihre katastrophalen Lebensbedingungen protestierten, richtete das von deutschen Offizieren ausgebildete Militär ein Massaker an

Häufig aber werden die O-Töne emotionalisiert und in Haltung sowie Intonation als Aussagen einer Person lebendig. Das fünfköpfige Ensemble spielt sich in die Empörung hinein, wenn Kinder der Pinochet-Opfer sich über die Straffreiheit für Folterer und Mörder beklagen, und lassen auch die Begeisterung spüren, mit der einige Chilenen auf die Möglichkeiten der neuen Verfassung zu sprechen kommen. Nachvollziehbar lächerlich gemacht wird hingegen der politische Rechtsaußen José Antonio Kast in einem nachgestellten Interview mit der rechtsextremen Online-Zeitung „La Gaceta de la Iberosfera“.

Zur Auflockerung des Ambientes einer szenischen Lesung sind Plakate der Aufstände von Oktober 2019 in Chile zu sehen, die an die Studentenunruhen in Bremen, Januar 1968, erinnern. Fahrpreiserhöhungen für Bus und Bahn brachten da wie dort die Unzufriedenheit gerade junger Bürger auf die Straße. In Bremen sollten Einzelfahrscheine 70 statt bisher 60 Pfennig kosten, in Chile 830 statt 800 Pesos, das entspricht aktuell 88 Cent. Gegen die Proteste fuhren in Chile allerdings Panzer auf, es gab Tote. Ob gewalttätiger Widerstand ein Verbrechen oder moralisch notwendig sei, ist kurz Thema der Inszenierung.

Schon springt sie zurück zu einer Revolte im Jahr 1907, als Arbeiter der Salpeterminen gegen katastrophale Lebensbedingungen demonstrierten. Das von preußischen Offizieren ausgebildete Militär richtete ein Massaker unter den Aufständischen an. Wie sich seither die wirtschaftlichen und damit auch politischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse entwickelten, wird leider nur angedeutet, wäre aber fürs Verständnis der aktuellen Situation sehr hilfreich. Wie gerade Bremen und Hamburg von der Situation in Chile profitierten, wie die ehrbaren Kaufleute sich durch die Ausbeutung dort bereichert haben, geht völlig unter.

Das Potenzial des vorhandenen Materials aber ist riesig, um die Geschichte des Landes von der kolonialen zur postkolonialen Ausbeutung der Bodenschätze und der mühsamen Demokratisierung lebendig aufzublättern. Mit dem Scheitern des Hauptfokus, der neuen Verfassung, gibt es im uraufgeführten Text nun viel Streichmaterial – und reichlich Platz, die aktuelle Entwicklung hintergründig zu verfolgen und einzuarbeiten. Das Projekt könnte von Aufführung zu Aufführung wachsen.

Aufführungen: 20. und 28. 10.; 30. 11.; 8. 12., jeweils 19.30 Uhr, Bremen, Theater am Leibnizplatz

Gespräch zu und Auszüge aus der Produktion: Mo, 17. 10., 20 Uhr, Theater Bremen, Kleines Haus, noon/Foyer. Bitte anmelden unter: stiftung@vw.uni-bremen.de