Ausgehen und rumstehen von Jens Uthoff
: Pogende unter der Zirkuskuppel, beglückt

Versteckt liegt der Zirkus Mond auf einer einstigen Brachfläche zwischen dem Thälmannpark und den S-Bahn-Gleisen im Norden von Prenzlauer Berg. Vorbei an einer Skateanlage und einem Clubgelände im Abenteuerspielplatz-Style läuft man durch einen dunklen Schotterweg, irgendwann leuchtet das rot-weiße Zirkuszelt mit seinen Lichterketten auf. In dieser edlen Location feiern Chuckamuck am Freitagabend den Release ihres neuen Albums („beatles“). Die Manege füllt sich langsam, J. und ich nehmen auf der Tribüne Platz, trinken Premium-Bier und kauen auf salzigem Popcorn herum (also known as mein Abendessen).

Vorbands gibt es nicht, dafür betritt zunächst ein wahrhaftiger Warm-up-Act die Bühne. Feuerschluckerin Princess Tweedle Needle, mit Punk-Frisur und in sexy schwarze Kleidung gehüllt, etwas Peaches-mäßig, führt zum Eighties-Song „She’s on Fire“ einen Tanz mit brennenden Fackeln auf. Zu Beginn sieht das noch vergleichsweise harmlos aus, die Princess spuckt Feuer und löscht die Fackeln mit dem Mund, später aber schnallt sie sich ganz unprinzessinnen-like ein Dreieck aus Stahl auf das Schambein und fräst mit der Flex darauf herum. Funken sprühen ihr ins Gesicht, sieht spektakulär aus. Feuertaufe bestanden! Artistisch geht es weiter, als ein spindeldürrer Schlangenmensch (Cryptique_verses) eine etwa 15-minütige Performance hinlegt oder, sagen wir, hinbiegt.

Kurz darauf betreten die Blondie-Jungs von Chuckamuck die Bühne (alle haben entweder blond gefärbte oder naturblonde Haare). Sänger und Gitarrist Oska Wald, zunächst solo und mit Akustikgitarre auf der Bühne, mahnt das noch sitzende Publikum zu Beginn, aufzustehen und die Hüfte zu schwingen, denn „wir spielen zwar ruhigere Songs, aber das wird hier nicht so’ne Sitz-Nummer oder so“. Chuckamuck sind mit Verstärkung gekommen, das Trio hat vier Livemusiker am Start; sie haben eine Lapsteel-Gitarre, Trompete und Piano auf der Bühne. Zunächst spielen Chuckamuck tatsächlich vor allem langsame Stücke, mindestens jedes zweite ist ein Liebeslied („Komm zurück zu mir“, „Valentina“, „Vermisst“), aber die Songs werden zunehmend pogotauglicher. Stilistisch ist die Band breit aufgestellt: mal spielt sie deutschen Country, dann rock-’n’-rollige Nummern mit Surf-Einschlag, dann wieder Punksongs mit einer Extraportion Neuköllner Rotzigkeit. Zu Letzteren bildet sich irgendwann ein riesiger Hüpf-Pogo unter der Zirkuskuppel, die Meute grölt lauthals Songs wie „Sayonara“ und „Berliner Luft“ mit – bis zur Verausgabung. Mit einem ganzen Arsenal Chuckamuck-Ohrwürmern gehen J. und ich nach dem Konzert Richtung S-Bahn, durchaus beglückt, noch am nächsten Tag gehen mir die Verse nicht ganz aus dem Kopf („Jeden Tag derselbe Quark & du lässt dich drauf ein …“).

Der Samstag gehört dem Ausschlafen und dem (leider passiven) Sport, am Sonntag geht es nachmittags ins Jüdische Museum. Dort sind Musiker und Autor Yuriy Gurzhy sowie Schriftsteller und Sänger Serhij Zhadan zu Gast, das JM eröffnet die Veranstaltungsreihe „Ukraine im Kontext“, die sich mit der Geschichte und Gegenwart ukrainischer Städte befasst.

Ich bin ein taz-Blindtext. Von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis

Den Anfang macht Charkiw, Heimat Gurzhys und Zhadans, die beiden sprechen über die jüdische Historie des Ortes, über den Jazz und die Avantgarden des frühen 19. Jahrhunderts und natürlich über die aktuelle Situation. Zhadan, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2022, lebt weiterhin in Charkiw, er unterstützt die Widerstandskämpfer mit Hilfsgüter-Lieferungen, spielt mit seiner Band Zhadan i Sobaky für die Soldaten an der Front. Und berichtet von postapokalyptischen Landschaften, vom Verschwinden des studentischen Lebens aus der Stadt, vom Alltag im Krieg. Seine Schilderungen sind teils beklemmend, teils Mut machend, manchmal beides zugleich. Wer mehr über Charkiw in diesen Tagen wissen will, dem sei Zhadans bald erscheinendes Buch „Der Himmel über Charkiw“ nahegelegt.