: Krankheit, die versöhnt
Demenz lässt sich nicht wegzaubern: In Braunschweig eröffnet die sehenswerte Stückentwicklung „Vergessen, dass“ neue Perspektiven auf Alzheimer
Von Jens Fischer
Zauberhaft verschroben der Beginn dieser Uraufführung am Staatstheater Braunschweig: Frank alias Magic Lars probiert ein paar Tricks aus der Illusionisten-Kiste für Anfänger – zu erleben ist ein mit großen Gesten und tollpatschigem Charme ausgeführter Kampf gegen das eigene Unvermögen. Aber mit unbedingtem Willen und hartnäckiger Selbstironie macht Frank (Julius Ferdinand Brauer) deutlich, genau so möchte er sich im Leben überfordern. Auch wenn damit nicht einmal genug Geld zusammenkommt, um ein Zimmerchen mit Bett zu mieten. Übrig bleibt da wenig Energie für weitere konkrete Anforderungen des Lebens.
Deswegen reagiert Frank genervt auf die Aussage der studierenden Schwester Lisa, die mit dem Vater eine WG bildet: „Irgendwas stimmt nicht mit Papa; er verhält sich irgendwie komisch“, wirke zerstreut und vergesslich. Die seit Jahren getrennt lebende Gattin Claudia und Stieftochter Noemi, 24 Stunden am Tag mit ihrer Karriere beschäftigt, schließen sich Franks Abwiegelung an: Komisch sei das neue Normal, die Redseligkeit des Alters, jaja. Aber schon eine Szene später haben Ärzte wohl Eiweiß-Trümmer sich ausbreitender Neuronenmassaker beim Vater nachgewiesen, so dass der Familienchor verkündet: „Alzheimer“.
Hospitation im Heim
„Vergessen, dass“ ist die Stückentwicklung von Regisseur Jan Neumann und dem Ensemble betitelt. Sie haben sieben statt der üblichen sechs Wochen Probezeit bekommen für das aufwendige Projekt. Interviewt wurden Erkrankte und deren Familienangehörige, aber auch Neurologen und Gerontopsychologen. In der Fachliteratur recherchierte das Team, bei einem Fachjuristen und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung. Zudem wurde in Pflegeheimen hospitiert.
Mit dem so gewonnenen Wissen improvisierte das Spieler:innen-Quartett, aus dem szenischen Material destillierte Neumann den Stücktext – beispielhaft für eine wachsende gesellschaftliche Aufgabe. Die Zahl der Demenzkranken nimmt der Deutschen Alzheimergesellschaft zufolge kontinuierlich zu, da es hierzulande mehr Neuerkrankungen – 2021 etwa 440.000 Menschen – als Sterbefälle gibt. Derzeit leben etwa 1,8 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Demenzerkrankung, die meisten sind von Alzheimer betroffen.
Auf altväterlich tapezierten Bühnenbildwänden verschwimmt das Abbild einer Figur zum Schatten und verliert sich im Nichts. Die gesamte Retro-Ausstattung (Dorothee Curio) kann als Annäherung an eine verlorengehende Lebensweise und die sich auflösende Beziehung zu einem ins Vergessen abdriftenden Charakter gelesen werden. Der ist auf der Bühne aber nie physisch, sondern nur durch die Gespräche der Seinen anwesend. Die tragen alle die gleiche Perücke, sind ähnlich clownesk gekleidet und zunehmend rast-, rat-, haltlos.
Wie Sprechpuppen artikulieren sie in rasantem Tempo die im boulevardesken Ping-Pong konstruierten Dialoge. In einer lebensnahen Kunstsprache werden eben nicht Individuen, sondern anhand der üblichen Ausweichmanöver und Fluchtversuche eher Typen vorgestellt. Wollen sich doch alle am liebsten raushalten, das Problem mit dem Vater verdrängen. Denn niemand hat Zeit, sich helfend einzubringen. Die auf Humor setzende Distanzierung durch die Schnellsprecherei wahrt dabei die Balance zwischen Karikatur und Zuneigung. Die Inszenierung hält auch stets inne, wenn es schmerzhaft ernst wird. Etwa als Lisa erklärt: „Papa wird alles vergessen, sein Leben, sich, dich, mich. Die Welt wird immer fremder werden für ihn, chaotisch und nicht mehr beschreibbar, er wird alle Worte nach und nach verlieren. Jede Minute wird alles neu sein, immer wieder neu und anders. Wo bin ich? Warum bin ich hier?“
Die Ehefrau trauert, dass mit ihrem Mann auch ein Teil ihrer Geschichte und Identität geht: „Dieses Verwesen seines Seins, bei lebendigem Leib. Dieser Mensch, den ich geliebt habe wie keinen, meine Kinder ausgenommen, dieser Mensch geht so unendlich langsam, vor meinen Augen, und lässt mich allein.“ Szene für Szene wird über Symptome und Verlauf der unerbittlich voranschreitenden Degeneration informiert, auch darüber, wie sich die Familie doch noch einbringt – mit Geld, Betreuungszeit und Zuneigung.
Hilflosigkeit auf allen Ebenen
Statistiken zufolge werden drei Viertel aller Demenzkranken von Angehörigen versorgt. Was hochemotional und problematisch ist. Claudia: „Als ich ihm das erste Mal die Zähne geputzt habe, haben wir beide geweint.“ Hilflosigkeit regiert auf allen Ebenen. Der Vater verliert sich selbst, ohne dass er was dagegen tun kann, alle anderen sind mit dem körperlichen und psychischen Stress überfordert. Nerven liegen blank – und verdrängte Konflikte kochen hoch. Da kann Julius Ferdinand Brauer zaubern und Quatsch machen wie er will.
Schließlich werfen ihm die Schauspielkolleg:innen vor, er habe eine Szene übersprungen. Vergessen? Wie sich bei einem Demenzkranken das Gedächtnis auflöst, ergeht es der dramatischen Struktur. Das Stück gerät aus den Fugen. Die Theatermacher:innen treten aus ihren Rollen, assoziieren Szenenfragmente, Probeneindrücke und äußern völlig berechtigte Kritik: „An dem ganzen Abend geht es nie wirklich um den Vater. Das ist die Schwäche des Stücks.“
Die Welt eines Demenzkranken aus dessen Sicht zu erzählen, das war Florian Zellers Stück „Der Vater“ gelungen, das 2015 eine triumphale deutschsprachige Erstaufführung am St. Pauli-Theater erlebte. Bei Neumann ist Demenz dagegen vor allem Anlass, dass die Figuren ihre Lebenseinstellungen hinterfragen, die eigene Geschichte neu sehen lernen, bis die heillos zerstrittene Familie wieder zusammenfindet. Denn alle suchen wie der Vater nach einer verlorenen Welt, nach ihrem „Zuhause“.
Das theatralische Aufblättern des Themas funktioniert bestens und dank der aufgebrochenen Erzählweise weist das Stück sogar über die herkömmliche Demenzliteratur hinaus. Es eröffnet neue Perspektiven. Hingehen lohnt!
„Vergessen, dass“, Stückentwicklung von Jan Neumann & Ensemble, Staatstheater Braunschweig, Kleines Haus, wieder am 8., 15., 19.,20., 22., 27. und 29. 10., jeweils 19.30 Uhr
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