Das Kollektiv der Kollektive

Die documenta fifteen in Kassel endet diesen Sonntag. Sie wird als Skandalschau in die Geschichte eingehen. Ihre Macher konnten die Antisemitismusvorwürfe nicht entkräften. Die Kunst ging unter

documenta-Findungs­kommission und Beirat: Frances Morris, Amar Kanwar, Philippe Pirotte, Elvira Dyangani Ose, Ute Meta Bauer, Jochen Volz, Charles Esche, Gabi Ngcobo   Foto: Fo­to:­Nicolas Wefers

Die Party in Kassel ist over

Eine ungehobelte Kunst, engagiert für die eigene Sache und häufig blind gegenüber der politischen Komplexität

Von Sophie Jung

Sie hatten mit ihrer Ernennung, die künstlerische Leitung der documenta fifteen zu übernehmen, einen vielleicht zu großen Auftrag erhalten. Das Kuratorenkollektiv ruangrupa sollte ein Gemeinschaftsgefühl schaffen, und das in unserer Gegenwart der Konflikte. Ihre Partys im Jakarta der Nullerjahre seien legendär gewesen. Dort, im gerade von der brutalen Suharto-Diktator geprägten Land, hätten sie unterschiedlichste Menschen unter dem Dach einer freudvollen Kunst zusammengebracht.

So etwas sollte auch in Kassel geschehen, wie beim letzten Meydan-Wochenende der documenta. Eine Lichtprojektion bespielte die Fassade eines verödeten Industriebaus, DJs legten Chansons aus dem Indonesien der 1960er Jahre auf, ein paar Meter weiter führten die Tän­ze­r:in­nen des Sa-Sa-Art Project aus Kambodscha ein queeres Ballett auf. Man meinte, etwas zu spüren von den kollektiven Prozessen, die diese documenta anregen wollte. Von einer Kunst, die auf gemeinschaftliches Erleben setzt, die unmittelbar funktionieren soll.

Doch nur ein paar Meter weiter kippte dies in eine moralische Beliebigkeit. Im Hübner Areal lief eine Filmreihe ab, die mit harten Kriegsbildern klare Feindbilder inszenierte. Die Reihe „Tok­yo Reels“ des Kollektivs Subversive Film zeigte Archivfilme des bewaffneten palästinensischen Widerstands während des Bürgerkriegs im Libanon. Unterlegt mit zeitgenössischen Kommentaren, von einer „zionistischen Verschwörung“ war darin die Rede, historische Fakten wurden verzerrt.

Für die letzten Tage der Kunstschau solle diese Filmreihe abgeschaltet oder zumindest kontextualisiert werden, empfahl ein Expertengremium, das von der documenta gGmbH beauftragt wurde, die Kunstschau auf antisemitischen Inhalte zu überprüfen. Denn genauso unmittelbar, wie in die grazile Performance der Ballettgruppe, wurde das documenta-Publikum auch hier hineingeworfen in diese Filmprojektion, umspült von antisemitischer Agitation. Ruangrupa reagierte empört auf die Empfehlung, sah sich rassistisch angegriffen.

Auch die Findungskommission der documenta, die das Kuratorenkollektiv nach Kassel geholt hat, wehrte sich gegen die Empfehlung: „Wir verteidigen das Recht der Künstler*innen, politische Formeln und festgefahrene Denkmuster zu untersuchen, bloßzulegen und zu kritisieren.“

Mit dieser Aussage scheint die Findungskommission den Kunstbegriff ihrer eigenen documenta missverstanden zu haben. Es wirkt, als beriefen sie sich auf eine Kunst, die sich auf Abstand hält, deren ästhetische Übersetzung ethischer Fragestellungen in ein Kunstwerk auch durch einen kritischen Filter läuft. Doch dieser kritische Filter existierte oftmals auf der documenta nicht, weder auf der Ebene der Kunstwerke noch auf der ihrer Vermittlung. Das wurde allen schmerzhaft bewusst, als das Protestbanner von Taring Padi am Friedrichsplatz entrollt wurde und seine antisemitischen Zerrbilder zutage kamen. Da war der Skandal schon geschaffen.

Ruangrupa wollten keine Bildwerke, sondern Kunstkollektive nach Kassel holen. Sie wollten Gruppierungen sichtbar machen, die oftmals in ihren Herkunftsländern eine freie kulturelle Arbeit überhaupt ermöglichen. Mit einem Hang zur einseitigen Kapitalismuskritik, die sich mit einer Israelkritik vermengt, hat ruangrupa nach vorgeblich ethischen Kriterien gewählt. Doch sie ließen das Ästhetische außer Acht, ignorierten, welche Bilder auf einer der großen Kunstschau zu sehen sind und welche Botschaften diese vor einem hunderttausendfachen Publikum verbreiteten. Auf die Frage, ob sie sich jemals die „Tokyo Reels“ angeschaut hätten, antwortete ruangrupa in Interviews, man müsse ja vertrauen können.

Vielleicht sollte auf der documenta fifteen ein neues Kunstverständnis gefeiert werden, aber aus diesem entstand oftmals eine ungehobelte Kunst, engagiert für die eigene Sache und häufig blind gegenüber der politischen Komplexität, in der wir leben. Eine Komplexität, die durch das Prisma der Vernunft, des aufmerksamen ­Schauens und des gegenseitigen Aufklärens hätte aufgefangen werden können, noch bevor all die Verletzungen entstehen, mit der sich die documenta nun plagt. Ein solch kritischer Filter im Vorfeld der Ausstellung wäre nicht bevormundend gewesen, oder aus einem „westlichen, weißen“ Überlegenheitsgefühl heraus gekommen, sondern hätte vielleicht eine gute und nötige Diskussion ergeben.

Alles von der Kunstfreiheit gedeckt?

Von Andreas Fanizadeh

Die documenta fifteen ist ein einziges Missverständnis. Sie markiert eine Zäsur und hinterlässt einen Scherbenhaufen. Unter Ausschluss von Kunstmarkt und individueller Urheberschaften sollte sie neue Maßstäbe setzen. Und zeigte am Ende vor allem wie manche Kulturfunktionäre agieren: ignorant gegenüber künstlerischen Szenen, ahnungslos bei komplexen politischen Vorgängen.

In der Rückschau wird deutlich, wie sehr für die Ausrichtung der Weltausstellung Einzelkämpfer wie Philippe Pirotte (bis 2020 Rektor der Frankfurter Städelschule), Jochen Volz (Direktor der Pina­kothek in São Paulo), Ute Meta Bauer (Gründungsdirektorin des Centre for Contemporary Art Singapore) oder Charles Esche (Direktor des Van Abbemuseums in Eindhoven) Verantwortung tragen. Als Findungskommission und Beiräte der documenta fifteen waren sie es, die die indonesische Agitprop-Gruppe ruangrupa als Chefkuratoren einsetzten. Sie sind es, die in Deutschland bestens vernetzt sind. Und auf die ruangrupa wohl vertraute, als es hieß, jeden konkret belegten Vorwurf des ­Antisemitismus ins Leere laufen zu lassen.

Jochen Volz untermauerte via Telefonschalte aus Brasilien im Deutschlandfunk gerade erneut seine verquere Logik, nach der der Antisemitismusvorwurf „den“ Medien nur dazu diene, „ruangrupa, die documenta und bestimmte Sichtweisen zu diskreditieren“. Volz und seine Mitstreiter behaupten, der Vorwurf des Antisemitismus würde rassistisch eingesetzt, um Menschen aus dem „globalen Süden“ herabzuwürdigen. In Kassel ging es offenbar von Anfang an nicht allein um unmittelbar antisemitische Darstellungen wie auf der skandalösen Großleinwand von Taring Padi.

Es scheint vielmehr ein Taschenspielertrick: Die indonesischen Kuratoren erklärt man qua Abstammung aus dem „globalen Süden“ für unangreifbar und authentisch. Wer sich darüber beschwerte, dass ruangrupa aus politischen – und keineswegs künstlerischen! – Erwägungen, völkisch-arabischen und islamistischen Positionen in Kassel Raum gaben, wird des Rassismus bezichtigt. Es ging um solche Setzungen, Defini­tions­macht, nicht um Austausch. Auf dieser Weltkunstschau sollten Propagandabilder wie „Guernica-Gaza“ gezeigt werden, wollte man Israel als Faschistenstaat beschimpfen. Mit den Mitteln der Täter-Opfer-Umkehr, derer sich auch Putin gegen die Ukraine bedient: Man greift an und behauptet, ein Land vom Faschismus zu befreien.

In Kassel erblödete man sich nicht, Propagandafilme zu zeigen, die den Terrorismus von palästinensischer PFLP und Japanischer Roten Armee feiern. Das sei alles von der Kunstfreiheit gedeckt? Nein, ist es nicht.

Ruangrupa und Beirat behaupten gebetsmühlenartig, hinter der Kritik an solch hetzerischen Positionen verberge sich ein rassistischer Angriff auf die gesamte documenta, auf alle beteiligten Künstler des „globalen Südens“. Damit nahmen sie diese in Geiselhaft, verwandelten die documenta in eine Wagenburg. Die Solidarität mit ausgeflippten, künstlerisch unbedeutenden Israelhassern – die auch nicht „die“ Palästinenser repräsentieren – wurde zum gemeinschaftsstiftenden Band.

Die Israel-Boykottbewegung BDS konnte diese documenta kapern. Als Verstärker in inter­na­tio­na­len Szenen dienten hierbei die übrigen vier documenta-Beiräte: Frances Morris (Direktorin der Tate Modern, London), Elvira Dyangani Ose (Direktorin des Macba, Barcelona), Gabi Ngcobo (Leitung 10. Berlin Biennale, jetzt Javett Art Centre, Pretoria) sowie der indische Filmer Amar Kanwar. Alles keine Kollektivisten, eher Einzelunternehmer. Radical chic und ideologische Botschaften galten alles, unabhängige Kunst und künstlerische Sprachen fanden kaum Wertschätzung.

In der sich globalisierenden Welt ist es richtig, mittels Kultur und Kunst respektvolle Austauschverhältnisse zu schaffen. Falsch wäre es dabei aber, antidemokratischen Diskursen nachzugeben. Sie kommen zumeist im Klagegewand gegen Amerika, Israel und die europäischen Demokratien daher. Und im Farbenspiel der Postkolonialen im schlichten Schwarz-Weiß. Die außereuropäischen Anteile an bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen blenden sie aus. Eine kritische Kunst, die ihren Namen verdient, wird sich niemals solch ideologischem Ansinnen Untertan machen.