Uli Hannemann
Liebling der Massen
: So grau, dass wir schon wieder schillern

Es ist ein der letzten heißen Spätsommertage in Berlin. Wir sitzen vorm Rocco, das einen günstigen Mittagstisch anbietet, heute unter anderem kalte Gurkensuppe, super, klingt gut, aber die bestell ich nicht, weil so gut klingt es dann nun auch wieder nicht.

„Ich versteh nicht, warum sie diese Hitze nicht für den Winter speichern“, sage ich. „Das kann ja wohl nicht so schwer sein.“ Mit „sie“ meine ich natürlich die Verantwortlichen in Forschung und Wissenschaft. Die haben das schließlich gelernt, die werden dafür bezahlt, dafür drück ich jede Menge Steuern ab: Alkohol-, Tabak-, Mehrwertsteuer. Ich selbst muss mir keine Lösungen ausdenken, das ist ja nicht mein Job, ich bin nur Chronist.

„Ein Tag wie heute, und du könntest im Winter wahrscheinlich eine ganze Woche damit heizen“, stimmt meine Frau zu.

Ich denke zwar nicht, dass Zeitabschnitte an sich beheizbar sind, aber ich verstehe, was sie meint.

„Wenn diese Wissenschaftler nicht den ganzen Tag lang faul in ihrem Bett rumliegen würden“, äußere ich einen Verdacht, „hätten die doch schon längst was Entsprechendes erfunden“, und meine Frau nickt empört. „Ich frag mich sowieso, was mit denen überhaupt los ist. Warum da aber mal so gar nichts kommt.

Drogenprobleme? Lebenskrisen? Depressionen?“, rätsle ich. „Die müssten halt mal professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Klar, kostet das anfangs Überwindung, aber dazu ist die Sache einfach zu wichtig. Weil jetzt ist es viel zu heiß, und im Winter dann viel zu kalt. Da muss man doch was machen.“

„Es ist so schlimm“, sagt meine Frau. „Ich hab neulich da drüben bei der Wasserpumpe, noch in Sichtweite von Roccos Außentischen, so einen Wissenschaftler gesehen.“ Mitleid, aber auch ein wenig Ekel verschattet ihre schönen und klugen Züge. „Der hatte nur so eine dreckstarrende Jogginghose an, die er mit beiden Händen festhalten musste, keine Schuhe, kein Hemd, keine Unterhose, nix. Und dann lässt er da plötzlich mitten zwischen den spielenden Kindern und allem die Hose runter und kackt da einfach auf den Platz.“

Sie schüttelt sich. „Ich glaube jedenfalls, dass es ein Wissenschaftler war“, fügt sie hinzu. Dass sie die eigene Position nie als absolut ansieht, sondern wiederholt auf ihre fortgesetzte Gültigkeit abklopft, hatte sie bereits in Diskussionen über Corona den selbstgerechten Schreihälsen beider Seiten weit voraus.

Und wie stets bekommen wir auch eine stichhaltige Begründung dazu geliefert: „Weil hinterher hat der so in seinem Kot rumgestochert, als ob er ihn untersucht. Aber was weiß ich schon …“

Es sind vor allem blitzgescheite Gespräche dieser Art, deretwegen wir geheiratet haben. Manche werden hier einwenden, dass man dazu ja gar nicht unbedingt heiraten müsse. Da haben sie recht. Wir haben es trotzdem getan, weil es uns ein diebisches Vergnügen bereitet, die Einwände und Erwartungen der Spießer zu unterlaufen. Nicht nur in dem Punkt sind wir echte Bohemiens.

Und was für welche: Wir sind die wohl langweiligsten und grauesten Bohemiens der Welt, so grau, dass wir schon wieder schillern, in unendlich vielen Graustufen natürlich. Die zelebrierte Konvention ist unsere ganz eigene Form des Eskapismus. Jeden Tag um 20 Uhr sehen wir die Tagesschau. Danach ein Grießbrei mit Zimt, und dann ist Schlafenszeit.

Wir sind auf eine völlig neue Weise hip, die darin besteht, möglichst zu Hause zu bleiben und keinerlei spontane, ungewohnte oder gar gewagte Dinge zu unternehmen. Extravaganz durch Unauffälligkeit – das betrifft auch unser Erscheinungsbild – ist ein neuer Style, den wir exklusiv kreiert haben.

Wir haben den Boremien erschaffen.