Nicht berufen zur süßen Lüge

Henrik Ibsens „Wildente“ am Kölner Schauspiel ist ein Feuerwerk von Klamaukeinfällen, das nach hinten losgeht. Die ironisch angelegte Inszenierung Armin Petras‘ bleibt bemüht und unausgegoren

VON HOLGER MÖHLMANN

Lügen macht glücklich. Wir alle lieben und brauchen die Lüge. Um Lügen wird in Liedern gebettelt („Tell me sweet little lies“), Schaufensterauslagen lügen Konsumwilligen die Taschen voll und den Geldbeutel leer, und wenn sich auch alle über die Lügenbolde in den Medien empören, so lassen wir uns doch nur allzu gern unsere profane Existenz mit den dreisten Unwahrheiten der Telenovelas und Vorabendserien überzuckern.

Von der heilsamen Wirkung der Lüge und den fatalen Folgen von zu viel Wahrheit wusste schon Henrik Ibsen. Er, der in seinen Dramen „Nora“ und „Gespenster“ die Lüge noch als zersetzend verteufelte, beschreibt sie in der 1884 entstandenen Tragikomödie „Die Wildente“ als pragmatische Maxime für ein sorgenfreies Dasein: „Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge nehmen“, lässt der Autor eine seiner Figuren die Botschaft zusammenfassen, „so bringen Sie ihn gleichzeitig um sein Glück.“ Als eine der letzten Neuinszenierungen der Spielzeit ist „Die Wildente“ zurzeit im Kölner Schauspielhaus unter der Regie von Armin Petras zu sehen, ab 2006 Intendant des Maxim Gorki Theaters in Berlin.

Wie immer bei Ibsen sind die Familienverhältnisse verworren und von reichlich Vergangenheit überschattet: Weil Bergwerksbesitzer Werle sich einst aus illegalen Machenschaften herauswinden konnte, traf die ganze Schuld seinen Mitstreiter Ekdal und trieb diesen in den Ruin. Als Werles Sohn Gregers davon erfährt, bricht er mit dem Vater und nistet sich bei den Ekdals ein. Neben dem Alten sind dies sein Sohn Hjalmar, ein verbummelter Fotograf, dessen resolute Frau Gina, ehemals Haushälterin bei Werles, und beider vierzehnjährige Tochter Hedvig, die sich rührend um eine flügellahme Wildente kümmert.

Gregers zieht ein und sucht Wahrheit. Mit dem Fanatismus eines rücksichtslosen Eiferers deckt er alles auf: Das harmonische Familienleben der Ekdals ist nur Fassade, Hedvig in Wirklichkeit die Tochter des alten Werle. Doch mit dieser Erkenntnis beschwört Gregers keine Katharsis, sondern eine Katastrophe herauf: Hedvig erschießt sich, als Hjalmar sich von ihr abwendet. Mit der gnadenlosen Wahrheitssuche eines Unberufenen ist niemandem gedient.

Ins Nachkriegsdeutschland der Fünfziger Jahre verlegt Petras die Handlung: in eine aufgehübschte Scheinwelt, wo zwischen Illustriertenbildchen, giftgrünem Kunstrasen und auf modern getrimmtem Mobiliar niemand etwas wissen will von den jüngst begangenen Kriegsverbrechen, die eine Stimme aus dem Off bedrohlich evoziert und die permanente Videoprojektionen auf den Seitenwänden sichtbar machen.

Die Inszenierung wimmelt von Regieeinfällen, und einige sind auch wirklich originell, doch die meisten wirken wie aufgepfropft und von sehr weit hergeholt. Spieltechnisch bewegen sie sich auf der Höhe gängiger Effektestandards wie Pistolenschuss und Video, Geschrei und Rumsauerei. Um zu zeigen, wie undelikat es hinter den Kulissen pastellfarbener Bürgerlichkeit zugeht, ist es nicht besonders innovativ, Theaterblut aus dem von Opa Ekdal erlegten Kaninchen zu wringen und sich damit die Unterwäsche zu bekleckern.

Man würde sie so gern mögen wollen, diese zutiefst bemühte Inszenierung, die es einfach nicht schafft, auf ironische Weise zu provozieren, die stattdessen langweilt mit ihrem auf Klamauk gebürsteten Spiel, das keinen dummen Einfall auslässt, die flügellahm bleibt wie die arme Wildente, und sich selbst unter tausend unausgegorenen Assoziationen zu Boden drückt. Wir alle brauchen Lügen. Den schal schmeckenden Cocktail aus viel zu vielen Wahrheiten, die der Aussage Ibsens am Kölner Schauspiel beigemischt werden, braucht in dieser Rezeptur allerdings keiner.

Die Wildente, Kölner Schauspielhaus, Offenbachplatz, Tel. 0221/221-284 00, nächste Vorstellungen: 24./25.6., 19.30, 26.6., 16 Uhr