70. Filmfestspiele von San Sebastián: Die Nöte der Jugend heute
So beeindruckende Vielfalt war noch nie. Zur 70. Ausgabe der Filmfestspiele von San Sebastián hatte das spanische Kino einen starken Auftritt.
Carla ist unberechenbar. Die 14-Jährige schwänzt die Schule, zertrümmert mit ihrem besten Freund Efraín fremde Wohnungen oder sie lachen sich über Internetpornos auf dem Smartphone schlapp, alles just for fun. Ihre alleinerziehende Mutter ist von der rebellischen Wut überfordert und ohnehin mehr mit dem neuen Lover beschäftigt.
Als die Sozialarbeiterin entdeckt, dass Carla im fünften Monat schwanger ist, bringt sie das Mädchen in ein betreutes Wohnprojekt für jugendliche Mütter. Dort soll sie mit anderen Minderjährigen und deren Babys lernen, mit dem viel zu frühen Erwachsenenleben zurechtzukommen und Verantwortung zu übernehmen.
Das Spielfilmdrama „La Maternal“ der 1980 geborenen Pilar Palomero war einer der herausragenden Beiträge des Filmfestivals in San Sebastián, bei dessen Preisverleihung am Samstagabend die 14-jährige Hauptdarstellerin Carla Quílez den Schauspielpreis erhielt. Palomero gelingt es, wie schon mit ihrem Berlinale-Debüt „Las niñas“ 2020, authentisch und auf Augenhöhe von sehr realen Sorgen und Nöten der heutigen Jugend zu erzählen. Sie verbindet dabei geschickt fiktionale und dokumentarische Elemente, die anderen Bewohnerinnen des „Maternal“ etwa spielen sich selbst.
Grenzen setzen
Was es heißt, heute jung zu sein, von scheinbar Alltäglichem und flüchtigen Momenten erzählen zwei weitere spanische Spielfilme im Wettbewerb des Festivals. Jaime Rosales porträtiert in „Girasoles Silvestres“ eine junge Mutter zweier Kinder, die sich von Beziehung zu Beziehung hangelt, immer wieder an den Falschen gerät. Sehr subtil und mit emotionaler Ehrlichkeit lässt Rosales das Leben passieren, die Jahre vergehen, und wie nebenbei lernt Julia Grenzen zu setzen, wird reifer und kann Liebe zulassen.
Auch in Fernando Francos intimem Drama „La consagración de la primavera“ steht eine junge Frau im Zentrum. Laura lebt in einem von Nonnen geführten Wohnheim in Madrid; statt zu feiern, konzentriert sie sich lieber auf ihr Studium. Durch einen Zufall lernt sie David kennen, der Zerebralparese hat und einen Blog über sexuelle Assistenz für Menschen mit körperlicher Behinderung schreibt.
Sehr vorsichtig und behutsam entwickelt sich zwischen den beiden eine ungewöhnliche Beziehung, die auf eine Art für beide befreiend wirkt. Ein Film ohne jedes Pathos, der in kleinen Gesten und Details mehr andeutet als ausformuliert und gerade dadurch berührt.
Höhepunkt des Jahres
Bei der 70. Ausgabe des Festivals zeigte sich damit das spanische Kino beeindruckender und vielfältiger denn je. Und setzte den Höhepunkt eines Jahres, das mit dem Goldenen Bären für Carla Simóns „Alcarràs“ auf der Berlinale im Februar begann und sich mit Filmen wie dem Mutterporträt „Cinco lobitos“ und Isaki Lacuestas Bataclán-Drama „Un año, una noche“ in Berlin sowie Rodrigo Sorogoyens beklemmendem Provinzthriller „As bestas“ in Cannes fortsetzte.
In San Sebastián reichte das breite Spektrum von Mikel Gurreas baskischem Regiedebüt „Suro“ über ein junges idealistisches Paar, das aufs Land zieht, um eine vererbte Korkeichenplantage zu übernehmen und dessen Vorstellungen und Privilegien mit den etablierten Strukturen und migrantischen Arbeitskräften vor Ort kollidieren, bis zur schrägen Lowbudget-Comedy „La amiga de mi amiga“ über die Neurosen und Liebeswirrungen einer Clique lesbischer Freundinnen in Barcelona.
Sehr brachial werden dagegen Körpernormen zerlegt in „Cerdita“ („Schweinchen“), in dem die jugendliche Tochter eines Dorfmetzgers wegen ihrer Leibesfülle gemobbt wird. Als einige besonders fiese Mitschülerinnen am helllichten Tag verschwinden, entwickelt sich das anfangs nur leicht skurrile Jugenddrama zur blutigen Horrorgroteske, die sich um Moral wenig schert.
Stark vom Machismo geprägt
Für große Aufmerksamkeit sorgte der Dokumentarfilm „El sostre groc“ der katalanischen Regisseurin Isabel Coixet, die sich dem Missbrauchsskandal an einer Schauspielschule in Lleida widmet. Deren charismatischer Leiter hatte jahrelang seine Machtposition ausgenutzt, um minderjährige Schülerinnen zu verführen. Sieben dieser Frauen brechen nun das Schweigen und geben sehr offen und selbstbewusst Auskunft über jahrelange Manipulationen und Übergriffe, ohne dabei als Opfer inszeniert zu werden. Ein wichtiger Schritt in einem Land, das nach wie vor stark vom Machismo geprägt ist.
Die Goldene Muschel für den besten Film erhielt am Ende ein Jugenddrama vom anderen Ende der Welt. Der kolumbianische Spielfilm „Los reyes del mundo“ von Laura Mora folgt fünf Straßenkindern aus Medellín und ihrer riskanten Reise in den Dschungel, auf der Suche nach dem Haus und Grund, das einst der Großmutter eines der Jungs gehörte, bevor sie vor der paramilitärischen Gewalt in der Region fliehen musste.
Nun soll dem Teenager im Rahmen des nationalen Restitutionsprogramms das Land zurückgegeben werden, doch dafür müssen Ra und seine Ersatzfamilie erst einmal ankommen. Mora inszeniert ihr ebenso bildgewaltiges wie bitteres Drama als eine Mischung aus Abenteuerfilm, Fiebertraum und Politthriller, in dem die brutale Gegenwart Kolumbiens immer mitschwingt.
Damit gewinnt nach den Filmfestivals in Berlin, Locarno und Venedig erneut eine Regisseurin den Hauptpreis eines A-Wettbewerbs, in San Sebastián selbst bereits zum dritten Mal in Folge. Als weitere Auszeichnungen gingen der Spezialpreis der Regie an das US-Debüt „Runner“ von Marian Mathias, der Regiepreis an den Japaner Genki Kawamura für das Demenzdrama „A Hundred Flowers“ und der Kamerapreis an den in Berlin lebenden Argentinier Manuel Abramovich für sein doku-fiktionales Porträt eines Sexarbeiters in „Pornomelancolía“. Das umstrittene Pädophilendrama „Sparta“ des österreichischen Filmemachers Ulrich Seidl ging am Ende dagegen leer aus.
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