Mit Winkelementen an der Protokollstrecke

Er war einer meiner ersten Popstars. Im Sommer 1989 gab es plötzlich massenhaft Buttons mit seinem Konterfei. Auch ich steckte mir einen an, als unsere Klasse zum 40. Jahrestag der DDR mit Winkelementen an die Protokollstrecke beordert wurde. Die Winkelemente gab die Pionierleiterin aus, die Buttons wurden unter der Hand gehandelt. Die greise DDR-Führung hatte Gorbatschow zum 7. Oktober als Staatsgast eingeladen, wollte sich mit ihm schmücken. Er sollte ihnen mit seinem „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ einen Strich durch die Rechnung machen. Für mich und viele meiner Klas­sen­ka­me­ra­d:in­nen war „Gorbi“ längst zum Symbol der Subversion gegen die vertrocknete Politikkaste und die starren Strukturen des Systems geworden. Perestroika und Glasnost waren klingende Begriffe, wir spürten, dass eine Zeit zu Ende ging und etwas Neues begann. Unsere Klasse schrumpfte täglich, Freunde verabschiedeten sich mit einem verstohlenen „Wir reisen aus“ und waren am nächsten Tag weg. Wir Verbliebenen standen also am 7. Oktober an der Hermann-Duncker-Straße und riefen „Gorbi, Gorbi“ und winkten wie wild mit unseren Fähnchen. Wir winkten Michail Gorbatschow zu und Erich Honecker zum Abschied. Einen Monat später demonstrierten Hunderttausende auf dem Alexanderplatz. Fünf Tage später fiel die Mauer. Anna Lehmann