Ein Störenfried im weißen Rüschennachthemd

MASKERADE An der Volksbühne hat Martin Wuttke Molières „Eingebildeten Kranken“ wieder ausgegraben

Er schreit „ich bin krank“, bis ihm niemand mehr glaubt. Hilft ihm das Dienstmädchen in die Kissen, ruft er „ihr bringt mich noch um“. Und wird er daran erinnert, dass er ohne seinen Stock nicht gehen kann, knicken ihm schlagartig die Knie weg. Man sollte diesem Kranken lieber nichts glauben, der mit Leidensmiene seine Pillenschachteln über den Tisch schiebt und dabei so agil fuchtelt, hantiert und kommentiert, dass man seine gute Kondition zutiefst bewundern muss.

An der Volksbühne Berlin spielt Martin Wuttke seit dem Wochenende diesen eingebildeteten Kranken. Er trägt ein weißes Rüschennachthemd und eine alberne schwarze Ohrenkappe, aber macht doch eine einmalig gute Figur. Nicht nur, dass er bei den komödiantischen Einlagen alle Register zieht, er wirkt inmitten des kleinen Ensembles wie freigespielt: als Figur ein Störenfried, der andere plagt und von ihnen geplagt wird, der höhere Meinungen einfordert, aber Autoritäten sofort hinterfragt und bei aller Komik auch genügend Ernst unterbringt.

Wo andere dieses in Vergessenheit geratene Stück von Molière als reine Verschrobenheit genommen haben, sieht man an der Volksbühne auf einmal mit Interesse, wie es menschliche Ordnungen infrage stellt. Ein mit schwarz-weißen Kassettenwänden ausgekleidetes Zimmer bildet den Spielort. Halb Salon, halb Krankenlager, in dem die Familie zusammenkommt. Argons Frau, die auf den Tod ihres Manns lauert. Tochter Angélique, die mit einem Arzt verheiratet werden soll.

Ein Riesenklistier

Das Dienstmädchen Toinette, zwei Ärzte und nicht zuletzt Angéliques Schwarm Cléante, der sich als Musiker ins Haus einschleicht und den Hausherrn mit der Erzählung einer selbst geschriebenen Oper von sich zu überzeugen versucht. Mit den Körpern wird Maskerade betrieben, mal stellt sich jemand tot, ein Riesenklistier wird eingeführt, der Auswurf vorne im Nachttopf aufgefangen. Und doch sind diese Komödienfragmente mit ernsten Fragen wie der durchsetzt, welche Kräfte den Menschen eigentlich zu heilen vermögen? Die Ärzte, die geistigen Kräfte, die Kunst, die Natur, die sich ja alle mit den existenziellen Blessuren befassen?

In dem inszenierten Slapstick lassen sich Antworten darauf allerdings nicht festnageln. So einfach trägt dieses Genre seinen Sinn dann doch nicht vor sich her. Zumal Martin Wuttke, der den Abend auch inszeniert hat, darauf gar nicht abzielt. Als Regisseur ist er jemand, der mit bekannten Stilen spielt und euphorische Momente produziert – durchaus zum Vorteil. Der Abend gewinnt, wenn die finale Sterbeszene in Volksbühnen-Ästhetik per Live-Handkamera hinter den Kulissen gefilmt wird und damit optisch und existenziell in dunklere Regionen vorgedrungen wird. Richtig satt ist man nach zwei Stunden allerdings noch nicht. Aber das kann noch kommen. Wutteks „Eingebildeter Kranken“ war gleichsam das Vorspiel. Bereits nächstes Wochenende legt Frank Castorf mit „Der Geizige“ nach. Noch ein Stück von Molière, in dem Liebe, Geld und selbst der Tod nur Zweck und Mittel sind und sich weitererzählen könnte, was in Wuttkes Inszenierung anklingt: wie es sich bei diesen Themen mit der Wahl verhält, die der Mensch hat.

SIMONE KAEMPF

■ „Der eingebildete Kranke“. Wieder am 15./29. Juni, 19.30 Uhr, Premiere „Der Geizige“ am 8. Juni, 19.30 Uhr