Der Billigkritisierer

Erst die Rührung und die Erschütterung, dann die Erkenntnis, einem Lügner aufzusitzen: Andreas Maiers missglückter Vatermord an seinem Schriftstellerlehrer Thomas Bernhard

VON JAN SÜSELBECK

Eine „offensichtliche Lust am Lügen und Fälschen“ wirft Andreas Maier dem großen Thomas Bernhard in seiner bei Wallstein als Buch erschienenen Dissertation vor. Es scheint, als wolle der junge Romancier an einem ehernen Denkmalsockel rütteln. Schon der Klappentext kündigt uns ein „Treffen der besonderen Art“ an: „Andreas Maier unterzieht das Prosawerk Bernhards einer radikalen Kritik und misst es an seinen eigenen Ansprüchen. […] Durch die Arbeit zieht sich als Leitfaden ein gewichtiger Vorwurf: permanente Stilisierung“.

Auf die alberne Idee, einem modernen Klassiker vorzuhalten, er sage in seinen literarischen Texten nicht immer die volle Wahrheit, muss man erst mal kommen. Doch es kommt noch härter: Bernhard zwinge den Leser durch die unablässige Wiederholung bloßer „Kalenderblattweisheiten“ dazu, zu glauben, in seinen Texten würden philosophische „Grundeinsichten“ verhandelt, ärgert sich Maier. Die Sätze, die Bernhards Protagonisten apodiktisch verkündeten, seien jedoch schlicht unverständlich: „Wo auch immer man genauer hinschaut, löst sich jede Bedeutung sofort in ein Meer verschiedenster Verstehensmöglichkeiten auf.“

Dass literarische Äußerungen dies nun einmal so an sich haben, scheint Maier noch niemand erklärt zu haben. Es ist in der Geschichte der Literaturrezeption nichts Neues, dass stets viele Leser glauben, sie seien im Recht, wenn sie monierten, ein obskures Werk wie etwa Bernhards „Amras“ (1964) müsse schlecht sein, weil sie es nicht verstünden. Die große Überraschung ist jedoch, dass ausgerechnet Maier, der mit seinem Romandebüt „Wäldchestag“ (2000) von der Kritik als stilistischer Nachfolger Bernhards gepriesen wurde, dazugehört.

Verwirrt reibt man sich die Augen: Im Kern wiederholt Maiers literaturwissenschaftliche Arbeit nur den alten Vorwurf österreichischer Boulevardblattleser, die Bernhard zeitlebens beschuldigten, er verbreite in seinen Büchern, zumal mit den darin geäußerten Hasstiraden gegen ihr Land, nichts als Lügen. Maier interessiert sich allerdings überhaupt nicht für den politischen Bernhard. Also den genüsslichen Provokateur, der die Verleugnung der nationalsozialistischen Geschichte seines Landes mit dem beißenden Spott seiner Figuren ins öffentliche Bewusstsein rückte, um dort, wie etwa mit dem Roman „Auslöschung“ (1986), selbstentlarvende Empörung hervorzurufen. Auch Kategorien wie die der Satire und der Komik sind Maier in seiner Untersuchung vollkommen fremd.

Stattdessen gibt er den todernsten Interpreten. Maier hat Bernhard von Anfang an als Verkünder existenzialistischer Seinsideen missverstanden – bis es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, dass hier ja bloß eine betrügerische „Methode der permanenten Wahrheitserzeugung“ vorliege. Da fand anscheinend eine ulkige Liebesgeschichte ihr Ende, die Maier 2003 in der Literaturzeitung Volltext so beschrieb: „Es gab eine Zeit, da habe ich Thomas Bernhard gemocht. Seine Literatur rührte mich, sie erschütterte mich auch. […] Ich erinnere mich an einen Monat, den ich in einem piemontesischen Dorf verbracht hatte. Ich wollte mich unbedingt umbringen und war allein aus diesem Grund dorthin gereist. Ich hatte nur ein Buch dabei, den ‚Untergeher‘.“ In der „Verführung“, wie Maier sein anklagendes Traktat konsequenterweise betitelt hat, haben wir es also mit einer Art versuchtem Vatermord des Schriftstellerschülers Maier an seinem Lehrer Bernhard zu tun. Das Ergebnis ist eine besserwisserische, redundante und oft entnervend pingelige Erörterung, die sich nicht zuletzt selbst in allerlei Widersprüche verstrickt.

Das Verblüffende ist nämlich, dass Maiers wohlfeile Nullsummenübung, fiktiven Texten irgendwelche logischen Inkonsistenzen vorzurechnen, selbst an allen Ecken und Enden knirscht. Genau dies wirft Maier aber Bernhards autobiografischen Schriften vor, deren fiktionalen Charakter die Germanistik bereits seit Jahrzehnten anerkennt.

Ohne dies zu berücksichtigen, stürzt sich Maier auf Romane wie „Der Keller“ (1979), um akribisch inhaltliche Unstimmigkeiten aufzuzeigen: Bernhard spreche nur in Superlativen von sich selbst, um sich „in die Nähe christlicher Heiliger“ zu rücken. Sein rhetorischer Aufwand diene dabei einer „künstlichen Konstruktion von Situationen“ bzw. „der Verschleierung der Tatsachen“, über die „vieles bloß behauptet wird“.

Wer hätte das gedacht! Bernhard selbst wiederholt in seinen autobiografischen Büchern bekanntlich immer wieder, er versuche zwar die Wahrheit zu schreiben, wisse aber, es könnten nur Lügen daraus resultieren. Letztlich komme es nur auf die Intention an, die Wahrheit zu schreiben. Diesen Wahrheitswillen stellt Maier nun triumphierend in Abrede. So verkündet er allen Ernstes über einen Schriftsteller, der 1989 nach einem jahrzehntelangen Kampf mit verschiedenen schweren Krankheiten verstarb, als Fazit einer seitenlangen Textanalyse: „Bernhard war nie todkrank, er hat nie einen Tuberkelbefund gehabt, hat nie zu den Schwerkranken gehört.“

Zweifeln kann man nach der Lektüre dieses Pamphlets nur an einem: An der literaturwissenschaftlichen Zurechnungsfähigkeit Maiers.

Andreas Maier: „Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa“. Wallstein Verlag, Göttingen 2004, 320 Seiten, 19 Euro