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Ein Geysir neuer Bilderwelten

Kunst im Herbst: Während sich das Museum Ludwig in Köln auf Pflanzen kapriziert, ist im Kunsthaus Zürich das Werk von Niki de Saint Phalle zu sehen. Die Berlin Art Week zieht es in die Peripherie

Von Jana Janika Bach

Bloß nicht wieder zusperren, lautet die Botschaft an die Kultur, einhellig zu vernehmen von Bayern bis Berlin. Das wolle wirklich keiner. Eigentlich. Sinistres braut sich zusammen, und der Ausblick auf die kühlere Jahreszeit bietet kaum Anlass zur Freude. Gäbe es da nicht die Kunst selbst, als hellen Streif, Tor und Fenster in andere Welten.

In Köln wirkt sie wie ein Vergrößerungsglas. Mikro statt Makro heißt es beim Besuch im Museums Ludwig, mit dem sich sogar der Sommer ein wenig verlängern lässt. „Grüne Moderne. Eine neue Sicht auf Pflanzen“ (17. 9. 22–22. 1. 23), so der zugkräftige Titel der Ausstellung, die nicht die Natur im großen Maßstab meint, sondern das einzelne Gewächs und ins frühe 20. Jahrhundert führt.

In eine Zeit, als der Stummfilm „Das Blumenwunder“ Menschen mit Zeitrafferaufnahmen begeisterte – wie den jüdischen Philosophen Walter Benjamin, allgemein ein Verehrer des Phänomens passagerer Zustände. Angetan von den vor Augen geführten technischen Neuerungen, schrieb er zwei Jahre nach Uraufführung des cineastischen Wunderwerks im Piccadilly 1926 quasi eine Ode. Ob nun die Pflanzen beim Wachsen beschleunigt oder um ein Vierzigfaches vergrößert würden, heißt es etwa im Text, „in beiden Fällen zischt an Stellen des Daseins […] ein Geysir neuer Bilderwelten auf“.

Mit einem Superlativ lockt indes die Royal Academy of Arts in London, sie bietet das immersive Kunsterlebnis des Jahres. Nach Anish Kapoor und Antony Gormley wird der namhafte William Kentridge die Akademie bespielen (24. 9. 22–11. 12. 22). Mit seinem poetischen Schwarzweiß-Miniaturtheater, in denen er Schattenrisse und Frottagen durch Stop-Motion-Technik zum Tänzeln bringt, und als Gegner des Apartheidregimes erlangte der Südafrikaner Weltruhm. Meterhoch wurden die Wände für seine gewaltige Installation tapeziert. Den magischen mit Holzkohle gezeichneten Wald sollen skurrilen Figuren bevölkern, etwa ein Purzelbaum schlagendes Rhinozeros mit Megafon.

Wer sich einmal in ihren intimen Porträts verloren und wiedergefunden hat, wird der Malerei von Alice Neel für immer verfallen sein. Über Jahrzehnte schuf sie ein malerisches Œuvre von singulärer Kraft und ließ im Leben kaum etwas aus – Nervenzusammenbruch, Tod der kleinen Tochter, Kubareisen, Söhne von zwei weiteren Vätern. Doch tragischerweise blieb ihr die Anerkennung lange verwehrt.

Im Jahr 1900 geboren passte Neel – Kommunistin, Frauenrechtlerin, alleinerziehend – nicht zur mondänen Art-Szene Downtown Manhattans. Mit ihren „pictures of people“, schonungslosen „Seelenbildern“ von Nachbarn, Prominenten, den eigenen Kindern, ließ sie sich schwer oder allenfalls irgendwo zwischen Neuer Sachlichkeit und Expressivität verorten. Auch nach der Retro­spek­tive im Whitney Museum in New York, die das Werk der damals 74-Jährigen erstmals einer Öffentlichkeit bekannt machte, galt Neel weithin als berühmte Unbekannte. Vor einer Leinwand sitzend sei sie frei gewesen und glücklich, sagte die Künstlerin vor ihrem Tod 1984. Dass sich ihre Geschichte auf vielerlei Arten erzählen lässt, bestätigt auch „Un regard engagé“ im Centre Pompidou in Paris (5. 10. 22–2. 1. 23). Eine Ausstellung, die Frühes aus den 1920ern bis zum Spätwerk hinsichtlich des sozialpolitischen Engagements Neels neu sortiert.

Heute wird Niki de Saint Phalle zu den populärsten, immer öfter zu den innovativsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts gezählt. Ihre üppigen Frauenfiguren, die Ende der 60er Jahre einen Nerv trafen, stehen an Orten in aller Welt. Lange unterschätzt indes wurde, welche Bedeutung die 1930 geborene Französin für die Kunstgeschichte hat. Die gigantisch Liegende – in den Brüsten eingerichtet eine Milchbar, im Unterleib ein Eingang –, die sie für das Stockholmer Moderna Museet entwarf, wurde als „größte Hure der Welt“ betitelt. Dabei markierten die „Nana“-Skulpturen einen Wendepunkt in de Saint Phalles von Krisen geprägtem Werk und Leben.

Arbeitete sie zunächst als Model für Zeitschriften wie Vogue oder Elle, beschloss sie 1953 in einer Psychiatrie Künstlerin zu werden. Sie begann mit den „Schießbildern“, ein performativ-martialischer Akt und feministischer Befreiungsschlag in einem. In weißem Hosenanzug legte sie das Gewehr an, die Farbbeutel in den Gipsre­liefs zerplatzten – ein Aufbegehren gegen die Herkunft, das Patriarchat, gegen den missbrauchenden Vater. Spät formt sie mit ihrem zweiten Mann Jean Tinguely Großformatiges, wie den Strawinski-Brunnen.

Sinistres braut sich zusammen, gäbe es nicht die Kunst als Tor in andere Welten

Über zehn Jahre gestaltet sie mit Tinguely und Freunden ihren Tarot-Garten in der Toskana, bevor sie 2002 in San Die­go, Kalifornien, stirbt. Hinterlassen hat sie ein Gesamtwerk, das in seiner Vielfältigkeit überrascht, wie im Kunsthaus Zürich (2. 9. 22–8. 1. 23), danach in der Frankfurter Schirn (3. 2. 23– 31. 5. 23) zu sehen sein wird. Ausgestellt werden dort frühe Assemblagen, Aktionskunst und Grafik, die Nanas, der Tarotgarten und späte Plastiken.

In Düsseldorf taucht de Saint Phalle in diesem Herbst ebenfalls auf, als Weggefährtin von Christo und Jeanne-Claude. Eine Schau im Kunstpalast (7. 9. 22–22. 1. 23), der letzten, die Christo kurz vor seinem Tod im Mai 2020 noch absegnete, kontextualisiert das künstlerische Erbe des umtriebigen Künstlerpaares, etwa mit Gemälden von Lucio Fontana oder Yves Klein. Zudem gibt sie Einblick in sämtliche von Christo und Jeanne-Claude realisierten Projekte seit „Wrapped Coast“ von 1968/69.

Wie viel männlicher Chauvinismus steckt in Mies van der Rohes Museumsbau? Eine das Fundament erschütternd berechtigte Frage, der Monica Bonvicini passenderweise in der Neuen Nationalgalerie auf den Grund geht. Die in Berlin lebende Italienerin übt, wenn auch lustige, doch handfeste Institutionskritik. Auch hinter den Fassaden der architektonisch aalglatten Ikonen der Moderne verbergen sich verkrustete Machtstrukturen. „Elegance and Crime“ (28. 10. 22– 2. 4. 23) präsentiert in der oberen Halle Bekanntes und neue Produktionen.

In Berlin, „einer im märkischen Sand gelegenen Insel“, trifft man sich außerdem, kommt dem nichts in die Quere, zur Berlin Art Week (14. 9. 22–18. 9. 22). Wie so viele, die es wegen der hohen Lebensqualität oder Mietpreise ins Umland verschlägt, zieht das Festival dieses Jahr hinein in die Peripherie. Fast seit 25 Jahren ist sie Hauptstadt, für die einen noch immer magisch, die anderen degradieren sie als in Teilen provinziell oder sagen gar, wie der Autor Jens Bisky, sie sei „eine große Stadt“. Ein Spannungsfeld, das es im Speckgürtel zu untersuchen gilt.

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