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Foto: Oleksandr Magula

Schach und Krieg in der UkraineDie Kiewer Eröffnung

Im Park wird Schach gespielt, ob im Krieg oder Frieden. Doch manch großer Meister ist ins Ausland abgewandert, und der Schach-Chef ist an der Front.

E s gibt Dinge, die gibt es schon lange und die wird es noch lange geben. Konstanten, die alles überdauern und eine Stadt zu dem machen, was sie ist. Was wäre Venedig ohne die singenden Gondolieri, Paris ohne Taschendiebe? In Kiew sind es die Schachspieler im Taras-Schewtschenko-Park.

Jeden Tag, ob Winter oder Sommer, ob Krieg oder Frieden, sitzen sie und spielen, während die Bewohner der ukrainischen Hauptstadt an ihnen vorbeischlendern. Die meisten sind alte Männer. Viele sehen aus, als wären sie seit den 1970ern nicht von den steinernen Bänken aufgestanden, die im südlichsten Eck der Grünanlage ein eigenes kleines Königreich bilden.

Der Krieg auf dem Brett ist hier geliebter Alltag, schon seitdem der Park gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Gelände eines alten Truppenübungsplatzes gebaut wurde. Schach – der Name ist eine Abwandlung des persischen Wortes „Schah“, deshalb auch Spiel der Könige genannt –, in dem es darum geht, mit seiner Armee den König des Gegners zu Fall zu bringen, ist hier das höchste Gut, das Bindeglied zwischen den Spielern, die aus allen Ecken Kiews in den Park pilgern, um sich zu messen.

Die Sirene interessiert nicht: Hier wird Schach gespielt

An diesem Augusttag wird die Sonne von einer dicken Wolkenschicht bedeckt. Es soll später gewittern. Kinder bekleckern sich mit Eis, Obdachlose schlafen ihren Rausch auf den Bänken aus. Obwohl die russische Invasion nun schon sechs Monate andauert, wirkt der echte Krieg weit weg, als der 62-jährige Nikolai Iwanowitsch sich an einen freien Tisch setzt. Die Luftalarmsirene heult auf, doch niemand dreht sich um. Die Geräusche des Krieges haben sich vollständig mit dem üblichen Stadtlärm verwoben, die Sirene ist nichts anderes als die vorbeirauschende Straßenbahn oder das Gehupe der Autos. Geduldig wartet Nikolai Iwanowitsch auf einen Herausforderer.

Gespielt wird im Taras-Schewtschenko-Park fast immer um Geld. Doch Nikolai Iwanowitsch, Rentner, Doktor der Physik und einst an einem Institut in Kiew tätig, ist kein geiziger Mensch. „Für ein Eis spiele ich gerne“, sagt er zart. Doch Eis schmilzt im Sommer sehr schnell, und deshalb kostet eine Partie gegen ihn 10 Hrywnja – umgerechnet sind das 25 Cent. Vorausgesetzt, man verliert. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist allerdings ziemlich hoch.

Weiterbildung: Das Schachbuch hilft beim Spiel im Park Foto: Oleksandr Magula

Nach zehn Minuten setzt sich ein Mann zu ihm. Nikolai Iwanowitsch überlegt nicht lange. Spielt er mit Weiß, eröffnet er mit dem Königsbauern. Bei Schwarz meistens sizilianisch. Es ist eine klassische, unaufgeregte Strategie, doch wenn man sie beherrscht, ist sie schwer zu kontern. Es gibt im Schach 1.327 Eröffnungen, jede mit ihren Vor- und Nachteilen.

Sein Herausforderer ist dabei, die fünfte Partie in Folge zu verlieren, da wird das Spiel von einem lautstarken Mann mit roter Trinkernase gestört. „Du musst ihn mit mir teilen“, sagt der Mann, der Wassily heißt, wie Nikolai Iwanowitsch später erzählt. „Wir machen 50/50.“ Nikolai Iwanowitsch winkt ab. Er solle ihn in Ruhe spielen lassen. „Ich bin ein Meister“, sagt der laute Wassily im Abgang stolz. „Und ich spiele nicht für weniger als 200 Hrywnja.“ Dass er ein Halsabschneider sei, stimmt, sagt Nikolai Iwanowitsch zähneknirschend. „Aber Meister ist er nicht.“

Wieder Fußball in der Ukraine

Saisonauftakt Sechs Monate nach Kriegsbeginn startet die ukrainische Fußball-Liga wieder. Am Dienstag be­stritten im Nationalstadion von Kiew die Topklubs Schachtar Donezk und Metalist Charkiw das Eröffnungsspiel (0:0). Am Wochenende findet bereits der zweite Spieltag statt. Andrej Pawelko, der Präsident des ukrainischen Fußballverbandes, erklärte: „Wir werden sicherstellen, dass wir unseren Geist und unsere Unbesiegbarkeit in die Geschichte des Weltfußballs einschreiben.“

Kriegsregeln Alle Stadien müssen in der Nähe eines Luftschutzbunkers liegen. Die Partien werden wegen der Gefahr von Raketenangriffen ohne Publikum ausgetragen. Bei einem Alarm werden die Spiele für maximal eine Stunde unterbrochen. Kann danach nicht weitergespielt werden, werden die Partien nicht gewertet. Die lokalen Sicherheitsbehörden treffen vor jedem Spiel die Entscheidung, ob überhaupt gespielt werden kann.

Qualitätsverlust Die Liga hat Substanz verloren. Grund dafür ist eine nach dem Kriegsausbruch eingeführte Regel des Weltverbands Fifa. Weil ausländische Spieler ihren ukrainischen Verein ablösefrei verlassen dürfen, hat die Liga mehr als die Hälfte ihrer Auslandsprofis verloren. Die finanziellen Einbußen für die Klubs sind immens. (taz)

Wie die meisten hier kommt Nikolai Iwanowitsch jeden Tag in den Park. Er möchte sogar seine Wohnung auf der anderen Flussseite verkaufen und hier in die Gegend ziehen, um zu Fuß kommen zu können. Der Park sei ein wichtiger Ort, das Schachspielen perfekt, um auch im Alter den Geist frisch zu halten. Und außerdem, um im Rentenalter nicht zu vereinsamen.

Wassily, das Großmaul, und der siegreiche Großmeister

Wenn Nikolai Iwanowitsch über das Schachspiel spricht, kommt er richtig in Fahrt. Seine Augen fangen an zu leuchten, selbst die anderen Spieler drehen sich um, hören zu und nicken zustimmend. Schnell merkt man, es werden hier nicht nur Figuren hin- und hergeschoben: Hier werden Geschichten geschrieben.

Etwa jene vom namenlosen Großmeister, der einst Wassily, das Großmaul, zu einer Partie herausgefordert hat. Wassily hat er fünf Minuten auf der Uhr gegeben, sich selbst nur eine. Wassily verlor, die Geschichte wurde zu einer Legende, die wiederum zur Konstante wurde: Ab und zu kommt der Großmeister noch vorbei. Wassily verliert, wie immer, und alle, denen er 200 Hrywnja aus der Tasche gespielt hat, bekommen etwas Genugtuung. Lautes Gelächter schallt durch den Park, als Nikolai Iwanowitsch davon erzählt.

Gegen Nikolai Iwaniwitsch haben nur die Wenigsten eine Chance Foto: Oleksandr Magula

Wassily schaut kurz von seinem Tisch hoch, ist jedoch zu sehr in seine Partie vertieft. Er und ein junger Mann mit nur einem Arm liefern sich ein heißes Duell, das von einigen Beistehern mit höchster Aufmerksamkeit beobachtet wird. „Der Tisch in der Mitte bildet das Epizentrum“, sagt Nikolai Iwanowitsch, „da wird um das große Geld gespielt“. Sogar Autos und Wohnungen hätten hier schon den Besitzer gewechselt. „Hast Du die Uhr dabei?“, fragt der laute Wassily sein Gegenüber, als er gewonnen hat.

Von den Sowjets gefördert

Schach ist in der Ukraine von großer Bedeutung, obwohl es auch statistisch gesehen das populärste Brettspiel auf der ganzen Welt ist, Schach die am meisten heruntergeladene Spiele-App für das Smartphone. Dass in der Ukraine so viele Menschen Schach spielen, liegt vor allem an der Förderung des Sports in der Sowjetunion, wo Schach Regierungsangelegenheit wurde. Nikolai Krylenko, in den 1930er Jahren Justizminister der UdSSR, sagte einst: „Wir müssen ein für alle Mal mit der Neutralität des Schachs aufhören. Wir müssen ein für alle Mal die Formel ‚Schach um des Schachspiels willen‘ verurteilen, wie die Formel ‚Kunst um der Kunst willen‘. Wir müssen Schockbrigaden von Schachspielern organisieren und sofort mit der Umsetzung eines Fünfjahresplans für Schach beginnen.“

Doch auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hat das Land einige Größen hervorgebracht, darunter Sergej Karjakin, der mit 12 Jahren zum jüngsten Großmeister aller Zeiten ernannt wurde.

Obgleich Schach als Spiel der Intellektuellen gilt, auch wenn die internationalen Wettbewerbe längst nicht jene Aufmerksamkeit wie etwa Fußball erfahren, ist der Sport ein Geschäft und ebenso ein Politikum, und zwar auf gleich mehreren Ebenen. Während Schach, wie die meisten anderen Sportarten auch, eine Männerdomäne ist, sorgen die ukrainischen Frauen seit ein paar Jahren für die größten Erfolge – und Skandale. So wurde Weltmeisterin Anna Musytschuk im Jahr 2017 der Titel aberkannt, weil sie sich weigerte, ein Turnier im frauenfeindlichen Königreich Saudi-Arabien anzutreten.

Vor wenigen Wochen gewann die ukrainische Mannschaft die Schacholympiade der Frauen in Indien. Doch schon kurz darauf folgte der nächste Aufschrei. Anna Musytschuk und ihre Schwester, die beide Teil der Siegermannschaft waren, erlebten einen Shitstorm, nachdem sie sich weigerten, ein Papier der Schachföderation ihrer Heimatstadt Lwiw zu unterschreiben, in dem gefordert wurde, während der Dauer des Krieges sämtliche russische und belarussische Spieler und Spielerinnen von internationalen Turnieren auszuschließen.

„Sport steht über der Politik“, verkündeten sie öffentlich. Zudem seien ihnen mehrere Versionen des Schreibens vorgehalten wurden, jegliche Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge ihrerseits wurden ignoriert. „Geht doch nach Russland“, heißt es in einem der Kommentare.

Die Schach-Meister gehen

Tatsächlich kämpft der ukrainische Schachverband mit einem Abwanderungsproblem. Seit Jahren wechseln Spieler, teils aus finanziellen, teils aus politischen Gründen in den mächtigeren und reicheren russischen Verband. So etwa Sergej Karjakin, der jüngste Großmeister aller Zeiten und heute auf Platz 16 auf der Weltrangliste des größten Verbands, FIDE. Auch die Großmeisterin Jekaterina Lagno wechselte 2014, nach Kriegsausbruch, in den russischen Verband. Sie lebt seitdem im Nachbarland, hat die dortige Staatsbürgerschaft angenommen und ist mit dem russischen Großmeister Alexander Grischtschuk verheiratet.

Seit Beginn der neuen Phase des Krieges im Februar sind zudem einige aussichtsreiche Talente ausgewandert, etwa Tikhon Tschernyaew und Nadia Schpanko, die jetzt in Deutschland und der Slowakei spielen. Neben Krieg und Politik sind die Finanzen ein großes Problem. Die ukrainische Schachföderation kann mit dem Budget anderer Länder nicht mithalten. Das Büro der Föderation ist lediglich eine mittelgroße Wohnung im Zentrum der Stadt, an der Hausfassade hängt nicht einmal ein Schild.

Ans Telefon geht auch keiner, erst nach mehreren Tagen ist der Vizepräsident Artem Sachuk zu erreichen. Seit Februar ist er in den Streitkräften, gibt Interviews und Kommentare nur noch übers Handy. Drei Millionen Hrywnja, 75.000 Euro, habe man jährlich zur Verfügung, sagt Sachuk. Nicht genug, um vielversprechende Talente an sich zu binden. Er wolle das Budget verzehnfachen, sagt Sachuk, aber in diesen Tagen sei das eine unlösbare Mammutaufgabe.

Wenn wir alles, was mit Kultur und alltäglichem Leben zu tun hat, hinten­anstellen, dann droht in Vergessenheit zu geraten, wofür wir hier kämpfen

Artem Sachuk von der Schachföderation

Seit Kriegsbeginn hat es in der Ukraine kein Turnier mehr gegeben, das professionelle Schachspiel findet ausschließlich online statt. „Wie wir sehen konnten, scheuen die russischen Kräfte vor keinem feigen Angriff auf Zivilisten zurück“, sagt Sachuk, „deshalb können wir es nicht riskieren, irgendwo eine öffentliche Veranstaltung zu organisieren“.

Die Position der Schwestern Musytschuk könne er aber verstehen, und das, obwohl er seine Funktion derzeit aus dem Schützengraben heraus wahrnimmt und sein Leben für die Ukraine tagtäglich aufs Spiel setzt. „Sie sind Sportler, und Sportler haben natürlich eine eigene Motivation, Dinge zu tun und zu sagen. Oben auf ihrer Prioritätenliste steht ihre Karriere, an der sie seit Jahren tagtäglich arbeiten.“ Es sei gut, nicht alles immer nur im radikalsten Licht und aus der militärischen Sicht zu sehen. „Wenn wir alles, was mit Kultur und alltäglichem Leben zu tun hat, hintenanstellen, dann droht in Vergessenheit zu geraten, wofür wir hier eigentlich kämpfen.“

An der Front spiele er weiter Schach, so oft es eben gehe, sagt Sachuk. Zum Abschalten. Er möchte das erste Militärschachturnier der Ukraine organisieren. „Wie überall aber ist das Sicherheitsrisiko die größte Herausforderung. Schauen wir mal, was wir auf die Beine stellen können.“

Kiew, an einem anderen Nachmittag im August. Die Sonne scheint über den dicken Blättern der Bäume, die Spaziergänger vor ihren Strahlen schützen. Es ist wie immer: Kinder bekleckern sich mit Eis, Obdachlose schlafen ihren Rausch auf den Bänken aus und an den steinernen Tischen wird Schach gespielt.

Wolodymyr Pawlowitsch sieht aus, als wäre er einer alten Fotografie entschlichen. Die Goldzähne blitzen im Sonnenlicht, mit der linken Hand wird gespielt, mit der rechten geraucht. „Solange man lebt, soll man rauchen“, sagt Wolodymyr Pawlowitsch. Deutsch hat er in der Schule gelernt. Das Zitat aus einem Helge-Schneider-Film kennt er aus dem Fernsehen. Vor der Rente war er Manager der größten Buchhandlung im Kiewer Oblast.

Die Witze gibt es umsonst

Ein Spiel gegen ihn ist etwas teurer als bei seinem Freund Nikolai Iwanowitsch: 25 Hrywnja, umgerechnet 60 Cent. Dafür erzählt er während des Spielens einen Witz nach dem anderen. Ein Beispiel: „Eine Frau bietet einem Mann an, Verstecken zu spielen. ‚Versuch mich zu finden‘, sagt sie ihm, ‚und falls Du es nicht schaffst, warte ich auf Dich hinter diesem Baum dort um die Ecke‘.“

Immer wieder kommen andere vorbei, schauen kurz den Partien zu, grüßen sich. Dann tauchen zwei Teenager auf, nicht älter als 16, sie suchen eine Herausforderung. Um Geld wollen sie nicht spielen, sie hätten nichts dabei. „Dann müsst ihr euer Sparschwein aufbrechen“, sagt einer der älteren Herren hämisch.

Ein anderer aber erbarmt sich und spielt mit den Jungs „für den Spaß“. Dem Witzbold Wolodymyr Pawlowitsch rutscht kurz das Lächeln vom Gesicht. Er holt aus seiner Tasche eine Tupperware, isst langsam seine Kartoffeln und denkt nach. „Für die Jugend tut es mir leid, was passiert“, sagt er. „Aber ich bin alt, was soll ich dazu beitragen.“

Statt noch eines Witzes wolle er zum Abschied ein selbst geschriebenes Gedicht vortragen. Er packt seine Tupperware und die mitgebrachte elektronische Stoppuhr behutsam in seinen Rucksack, schließt den Reißverschluss und beginnt zu rezitieren.

Das Gedicht ist lang. Es heißt „Ein Appell an den russischen Imperialisten“. Wolodymyr Pawlowitsch spricht es leise, schließt sogar die Augen. „Seit wie viel Jahren trinkt ihr unser Blut? Warum seid ihr noch nicht satt?“, möchte er wissen. Es wirkt surreal, weit entfernt von der friedlichen, familiären Atmosphäre dieses Parks in Kiew, als er sagt: „Ihr werdet gejagt werden, gejagt in euren Träumen, von den Müttern der Toten, auf beiden Seiten.“

Nach diesen Worten steht Wolodymyr Pawlowitsch auf und geht. Während die Zukunft der Ukraine weiter unsicher ist, das Land weiter von einem brutalen Krieg heimgesucht wird, wissen wenigstens er und seine Kumpanen, was der nächste Tag bringen wird. Sie werden sich hier wiedersehen, am südlichsten Eck im Taras-Schewtschenko-Park in Kiew, und um Kleingeld mit ihren Freunden Schach spielen.

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