orte des wissens
: Mit dem Osten verflochten

Das Nordost-Institut beschäftigt sich mit der Geschichte der Deutschen und der deutschen Geschichte in Nordosteuropa

Grundlage der Forschung ist, die Historie nicht nur aus deutscher Sicht zu sehen

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Arbeit des Nordost-Instituts in Lüneburg traurige Aktualität gewonnen. Auch wenn die Ukraine nur ein Teil der Forschungsregion ausmache, seien die Auswirkungen auf das Institut erheblich, sagt dessen Direktor Joachim Tauber. „Wir sind in großer Sorge um unsere Kol­le­gin­nen und Kollegen – sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite. Unsere wissenschaftlichen Kooperationen in Russland sind seit dem 24. Februar eingestellt. Mit unseren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen stehen wir weiter im Dialog – die Archivarbeit ist aufgrund des Kriegsgeschehens aber nicht möglich.“

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat aber nicht nur organisatorische Folgen. Denn dabei gehe es um Aspekte, mit denen sich die acht Wis­sen­schaft­le­r:in­nen vom Institut seit Jahren beschäftigen – und die auch in Ost- und Mitteleuropa nicht neu seien. „Es geht um nationale Befindlichkeiten, imperiales Denken und militärische Aneignungen“, sagt Tauber. Der zeitliche Fokus der wissenschaftlichen Arbeit liege auf dem 19. und 20. Jahrhundert, „einer Zeit, in der diese Region mehrfach Opfer verschiedener totalitärer Ideologien wurde“.

Das der Universität Hamburg angegliederte Institut beschäftigt sich vorrangig mit der Geschichte der Deutschen, aber auch mit der deutschen Geschichte im nordöstlichen Europa. Die Forschung umreiße aber nicht nur die Ukraine, Polen und das Baltikum, sagt Tauber, sondern auch die Historie der Russlanddeutschen in Russland, Aserbaidschan und Kasachstan.

Das Institut arbeitet dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Wie mit einer Kamera zoomen die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen durch verschiedene Perspektiven: vom großen, politischen Überbau über kulturelle und gesellschaftliche Identitäten bis hin zu individuellen Erfahrungen. Diese Blickwinkel werden unter den drei Begriffen „Ordnungen – Aneignungen – Erfahrungen“ zusammengefasst, die Tauber immer wieder nennt.

Wie aus diesen unterschiedlichen Perspektiven eigene Mentalitäten wurden, steht im weiteren Interesse der institutionellen Arbeit. Stets kreist der Fokus dabei um die Geschichte der Deutschen. Grundlage sei laut Tauber aber auch, die Historie nicht nur aus deutscher Sicht zu sehen, „sondern als Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen unter verschiedenen politischen Bedingungen zu interpretieren“.

Die politische und gesellschaftliche Interaktion zwischen Deutschen und der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung hat sich in den letzten Jahrhunderten stark gewandelt. Gerade im Baltikum gab es beispielsweise bis 1918 viele Verflechtungen, die auf die Nähe Preußens zurückzuführen waren. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hätten sich die Beziehungen aber weiter reduziert, sagt Tauber. Dabei stelle der Zweite Weltkrieg für ganz Nordosteuropa eine Zäsur dar. Der Hitler-Stalin-Pakt und die damit verbundene Aufteilung der Region unter den beiden Großmächten präge die Identitäten nordosteuropäischer Gesellschaften bis heute. Dazu käme, dass durch das lange Bestehen der Sowjetunion „für diese Menschen der Zweite Weltkrieg eigentlich erst 1989 oder 1990 endet“.

Die dem Institut angegliederte Nordost-Bibliothek verwaltet rund 180.000 Medien, darunter 130.000 Bücher in allen Sprachen Nordosteuropas. Studierende und Interessierte mit und ohne nordosteuropäische Biographie können hier in eine Region eintauchen, die im westlichen Europa oft unter dem Radar läuft. Dazu veranstaltet das Institut immer wieder Lesungen und Vorträge zu Themen der Region.

Dass die Entwicklung Nordosteuropas weiter aktuell bleibt, zeigt sich in den gegenwärtigen politischen Diskussionen, die über die Ukraine hinausgehen. Die Zuwendung zur Europäischen Union und zur Nato steht nicht nur innerhalb der jeweiligen Staaten zur Diskussion, sie ist auch Streitpunkt mit dem langjährigen Nachbarn Russland. Selbst wenn sie heute schwächer ausfallen: Die Verflechtungen zwischen Nordosteuropa und Deutschland bleiben zweifelsohne bestehen. David Wasiliu