berliner szenen
: Die Augen des
Lyrikers

In der S-Bahn sitzt ein älterer Mann auf einem kleinen, grünen Handtuch. Er trägt eine Rennfahrer-Sonnenbrille mit Gläsern in Blau- und Violett-Tönen und hält einen Rucksack auf seinem Schoß. Ihm gegenüber sitzt eine Frau mit einem großen schwarzen Hund zu ihren Füßen. Sie hat ihre Beine übereinandergeschlagen, liest in einem Buch und streichelt dabei mit einem nackten Fuß den Hund. Der hat die Augen geschlossen und döst.

Der Mann kramt irgendwann in seinem Rucksack, zieht einen pinken Hefter heraus und daraus mehrere Blätter, als er die Frau anspricht: „Entschuldigen Sie, Sie lesen doch gern.“ Die Frau sieht von ihrem Buch auf, als käme sie gerade von sehr weit her. „Na ja, schon. Wenn ich mal dazu komme“, sagt sie.

Er hält ihr die DIN-A4-Seiten hin: „Wenn Sie mal das Verlangen nach Lyrik verspüren, ich habe da etwas geschrieben.“

Sie ergreift die Seiten, der Hund schaut kurz auf, was los ist und legt dann den Kopf wieder ab. „Vielen Dank“, sagt sie und schaut sich die Seiten an. Auf der ersten Seite ist ein Cover in Grün zu sehen, danach folgen Verse.

„Mein Mann interessiert sich sehr für Lyrik“, sagt sie dann. „Vielleicht gefällt es ihm ja“, sagt der Mann. „Ich habe dieses Gedicht vor meinem Schlaganfall begonnen und danach beendet“, erklärt er. „Es war schwer, meine gesamte linke Seite war gelähmt, aber es kam alles wieder.“

Die Frau sagt etwas, an das ich mich nicht mehr erinnere. Der Mann nickt und sagt: „Das Gedicht hat mir wieder ins Leben geholfen.“

Die Frau ist still mit dem Blick auf den Seiten und sagt: „Wie schön, dass Sie so etwas gefunden haben.“

Die S-Bahn hält. Ich bedauere, dass ich schon aussteigen muss. Und noch viel mehr, dass ich die Augen des Lyrikers hinter der Sonnenbrille nicht sehen konnte.

isobel markus