Blick auf das Leben anderer

„Revelations“ heißt die Retrospektive der amerikanischen Fotografin Diane Arbus im Essener Folkwang Museum. Gezeigt werden 180 ihrer wichtigsten Bilder, 53 überhaupt zum ersten Mal

VON KÄTHE BRANDT

Diane Arbus (1923-1971) fotografierte Menschen wohl nicht in erster Linie, um zu zeigen, dass sie leiden. Auch nicht, um gesellschaftliche Missstände zu beklagen. Dass die Lebenswelt ihrer Protagonisten dennoch keineswegs schön und freundlich ist, liegt daran, dass die Künstlerin gerade die bizarren Situationen sucht, die am Rand der gesellschaftlichen Normalität zu finden sind. Die Fotografie eines jungen pickeligen Patrioten mit Strohhut, der darauf wartet, in einer Pro-Kriegs-Parade mitzulaufen (1967) oder das Bild „Jüdischer Riese zu Hause im Wohnzimmer seiner Eltern in den Bronx“ (1970) sind inzwischen zu Ikonen einer Fotografie geworden, der es in erster Linie darum zu gehen scheint, die Absonderlichkeiten ebenso wie offenkundige Banalitäten des Lebens aufzuspüren und zu dokumentieren. Die Fotografie „Junge Brooklyner Familie bei ihrem Sonntagsspaziergang, N.Y.C.“ (1966) zeigt auf den ersten Blick nichts besonderes und dennoch schleicht sich Unbehagen ein: Weil die Menschen in der Maske kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit so offensichtlich für das Foto posieren, zeigen sie eine gern versteckte Facette ihres Daseins. Hinter der Feiertagspose erscheinen Ängste und Träume und der banale, grausame Alltag. Das behinderte Kind an der Hand des Mannes mag einer der Gründe für die tiefernsten Mienen dieser Menschen sein.

Die vom San Francisco Museum of Modern Art konzipierte retrospektive Ausstellung zum Werk der New Yorker Fotografin im Essener Folkwang Museum zeigt nicht nur die vielfach publizierten, sondern eben auch gut 50 unbekannte Werke aus dem Nachlass. Diane Arbus war Zeit ihres Lebens darauf angewiesen, Auftragsfotografien an Zeitschriften und Magazine zu verkaufen. In Essen ist in drei Räumen, den „Libraries“, auch dieses Arbeitsumfeld der Künstlerin ausgestellt. Mit Zeitungsausschnitten, Kontaktbögen, Notizen, Briefen, Büchern und ihren Kameras soll ihr fotografisches Denken gerahmt werden.

Vielleicht kann man Arbus‘ Art, die oft skurrilen oder abgründigen Details menschlichen Lebens aufzuspüren und mit ihnen die ganze Bandbreite „normaler“ Abweichung zu dokumentieren, in gewissem Sinne auch in Fortsetzung von August Sanders‘ Projekt der fotografischen Katalogisierung des deutschen Volkes sehen, die dieser 1911 begonnen hatte. Sein nur teilweise veröffentlichtes Antlitz der Zeit sammelte in pseudowissenschaftlicher Neutralität Archetypen. Seine Menschen erscheinen als Repräsentanten ihrer eigenen Wirklichkeit. Die Arbeiten von Diane Arbus verweigern eine enzyklopädische Sicht. In New York City fand die junge Fotografin die meisten ihrer Motive: Paare, Kinder, Familien der Mittelschicht, auch Nudisten, Akrobaten, Transvestiten, Exzentriker. Ihre zeitgenössische Anthropologie umfasst ein ganzes Spektrum menschlicher Absonderlichkeiten in der Normalität, die uns heute erschrecken oder faszinieren mögen, deren etwas voyeuristische Neugier die Kulturkritikerin Susan Sontag aber wohl zu recht bemerkt. Seit 1962 arbeitete die Künstlerin mit einer 6x6 Rolleiflex, die es ihr erlaubte, den Porträtierten von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten und sich nicht hinter ihrer Kamera zu verschanzen.

Dies mag auch ein Grund dafür gewesen sein, dass sie intime Einblicke erhielt, die anderen gewöhnlich verwehrt sind: die Domina mit ihrem Kunden bei der „Arbeit“, die turnenden Psychiatrie-Patienten auf der Anstaltswiese oder James Brown mit Lockenwicklern. An den Porträtaufnahmen sei erkennbar, so Sontag, was die Modelle empfanden, „nachdem sie sich bereit erklärt hatten, fotografiert zu werden.“ Nur wüssten die Menschen offenbar nicht, „wie grotesk sie wirken“.

Museum Folkwang Essen bis 18. September 2005