crime scene
: Der Ermittler ist selbst pädophil

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Jan Costin Wagner: „Am roten Strand“. Galiani, Berlin 2022. 304 Seiten, 22 Euro

PolizistInnen sind auch nur Menschen. Das weiß auch die Genreliteratur, und oft wird diese menschliche Seite einer Ermittlungsgeschichte ziemlich breit ausgewalzt; man kennt das. Was aber, wenn ein Detektiv mit mehr zu kämpfen hat als „nur“ einer toxischen Beziehung/einer Suchtveranlagung/einem anstrengenden Familienleben? Wenn der Detektiv in einem Fall ermitteln muss, in dem er, der doch einer von den „Guten“ sein will, selbst tendenziell auf die Seite des „Bösen“ gehört?

Jan Costin Wagner hat einen solchen Ermittler erdacht, Ben Neven, der im Roman „Am roten Strand“ mit Kollegen nun schon am zweiten Fall arbeitet. (Nach einer langen Reihe um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa hat Wagner eine neue Krimireihe begonnen, die in Deutschland spielt.) Ben Neven hat ein Problem, von dem niemand sonst weiß: Heimlich steht er auf kleine Jungen. Gleichzeitig ist er verheiratet, Vater einer Tochter und ein verantwortungsbewusster Kriminalbeamter, von den KollegInnen hoch geschätzt.

Im aktuellen Roman stehen er und sein Team vor einem Durchbruch in der Ermittlung gegen die Teilnehmer eines geheimen Chatrooms, in dem der gemeinschaftliche Missbrauch von kleinen Kindern, häufig den eigenen, verabredet wird. Eine erste Verhaftung ist gelungen, da stirbt der Verdächtige eines plötzlichen Todes: Noch im Verhörraum bricht er zusammen, mit Schaum vor dem Mund. Kurze Zeit später gibt es einen weiteren Todesfall, diesmal eindeutig ein Mord. Und auch dieser Tote gehört zu demselben Kreis von Kinderschändern wie der erste.

Im Unterschied zu den Ermittelnden wissen wir LeserInnen, dass eine offenbar allwissende Rächerin unterwegs ist. Wer sie ist, wissen wir allerdings nicht, und auch nicht, dass es zwischen ihr und dem übrigen Romanpersonal eine indirekte persönliche Verbindung gibt …

Es ist eine komplexe Erzähl­an­ord­nung, die Jan Costin Wagner um eine im Grunde relativ einfache Geschichte herum baut. Von vielen verschiedenen Seiten nähert er sich einem unfassbaren, unerträglichen Geschehen. Für seine psychologisch feinsinnige Ausarbeitung ist er oft gelobt worden; und tatsächlich gehört allerhand dazu, ein Missbrauchsszenario auch aus der Sicht eines Täters zu zeigen oder, wie im Fall von Ben Neven, aus Sicht einer zwiegespaltenen Persönlichkeit mit gutem Willen, aber dunklen Trieben.

Ob ihm das über den gesamten Roman hinweg gelungen ist, lässt sich naturgemäß nur schwer beurteilen. Auf jeden Fall erkauft der Autor die extreme Multiperspektivität, die hier zur Anwendung kommt (manche Nebenfiguren bekommen nur eine einzige Erzählpassage und die Lektüre erfordert viel Aufmerksamkeit und Mitdenken), mit einer gewissen Oberflächlichkeit, die den Vorteil hat, dass jede Personenperspektive einigermaßen schlüssig erscheint, aber auch den Nachteil, dass die angedeuteten Charakterprofile recht abstrakt bleiben. Zudem ist Wagner kein Autor, der seine LeserInnen mit allzu furchtbaren Details, und seien sie nur in den Gedanken seiner Figuren vorhanden, schockieren würde.

Das ist an sich sehr freundlich; beides aber limitiert das psychologische Figurenerzählen. Selbst Ben Neven, der aus dieser Vielstimmigkeit als komplexeste Figur herausragt, ist davon nicht ausgenommen. Er ist eine plausibel wirkende Kopfgeburt, bleibt als Person trotz aller Ambivalenzen aber blass. Auf ein echtes Identifikationsangebot möchte man in diesem Fall aber auch ganz gern verzichten. Also hat der Autor wohl den einzig gangbaren Weg aus einem Dilemma genommen: Denn wie sonst sollte man von etwas Unsäglichem so erzählen, dass es nicht unerträglich wird? Katharina Granzin