Ausgehen und rumstehen
von Ruth Lang Fuentes
: Kurz Luft und Bier holen

Foto: Anja Weber

Die Scherben?“, sagst du. „Das wird ja ’ne richtige Zeitreise.“ Und kommst dann natürlich trotzdem mit oder gerade deswegen. Wir treffen uns Freitagabend am Heinrichplatz, der eigentlich schon längst in Rio-Reiser-Platz hätte umbenannt werden sollen. Letzterer ist jedenfalls in seinem Leben bestimmt viel öfters barfuß und verstrahlt über diesen Platz gelaufen als dieser Heinrich von Preußen. Außerdem hat er uns die Musik hinterlassen, für die wir heute hier sind.

Wir sind viel zu früh da vor dem SO36. Hier findet das 50-Jahre-Jubiläumskonzert statt, das schon 2020 anstand. Wo denn sonst? Ich bin etwas aufgeregt. Man trifft ja nicht jeden Tag auf Nikel Pallat, den legendären Typen, der in einer WDR-Talkshow mal mit einem Beil den Holztisch vor sich zerhackte. Oder Kai Sichtermann, Gründungsmitglied und Bassist DER Agitrockband der Siebziger, die nicht nur zu Hausbesetzungen aufrief, sondern auch selbst mitmachte. Die von Anarchos, Spontis und undogmatischen Linken gefeiert wurde.

Erst mal also noch eine Runde über den Mariannenplatz drehen, vor dem Bethanien rumstehen. Kein Tränengas, keine Bullen, nur ein paar Touris heute. „Vielleicht ist der Traum ja doch aus“, sage ich. Vielleicht bin ich auch nervös, weil ich nicht enttäuscht werden will. Von dieser Band, die ich mir immer anhöre, wenn ich mich „working class“ fühlen will. Die eine gewisse linke Nostalgie in mir befriedigt. Nach einer linken Bewegung, die es genau hier in Kreuzberg kurz mal gegeben haben soll. Aber was, wenn es heute nicht mehr passt? Streng genommen sind wir ja nicht mehr in Westberlin, und außerdem fehlt er: Rio Reiser.

Das SO36 ist voll, als wir es betreten. Alle sind sie hier versammelt: Langhaarige Alt-68er, die von Anfang an mit dabei waren. Aus Schwaben geflohene Neuberlinerinnen. Siebzehnjährige Anarchisten mit geklautem Mercedes-Stern um den Hals, die noch nicht mal drüber nachgedacht haben, dass der Traum aus sein könnte. Du, der „auf Junimond und so einen Kitsch“ steht. Und ich, die gern „Keine Macht für niemand“ schreit.

Die Band kommt auf die Bühne: gealtert, aber cool geblieben, mit ein paar jüngeren Aushilfen. Es beginnt mit „Mein Name ist Mensch“, „Wir sind geboren, um frei zu sein“. Selbstironie, Kitsch, Blauäugigkeit, Wunsch und Hoffnung – man muss die Texte einfach feiern. Rios Sängerrolle übernimmt nicht nur eine Person, sondern abwechselnd verschiedene Sän­ge­r:in­nen. Und sie werden ihrer Aufgabe gerecht. Es folgt eine Solo-Akustik-Einlage: ein paar Rio-Songs für ein Publikum, das gerade mehr in Agitrock-Stimmung ist. Dann: Pause. Kurz Luft und Bier holen.

Weiter geht’s mit: Sklavenhändler. Der Turm stürzt ein. Dem Rauch-Haus-Song. Ich will nicht werden, was mein Alter ist. All die ganzen Lieder, für die man die Scherben eben kennt und liebt. Jörg Schlotterer spielt Querflöte, und jetzt ist so richtig Stimmung im Saal. Es werden Fäuste in die Luft gereckt. „Die rote Front und die schwarze Front sind wir“, brüllen wir. Jetzt ist doch alles gut. „A, Anti, Anticapitalista“, ertönt es plötzlich aus dem Publikum – ist das schon sponti? Eine Eskalation wie bei ihrem ersten Konzert auf Fehmarn gibt es heute natürlich nicht.

Die Scherben – also die, die noch dabei sind – sind älter geworden. Eine Zeitreise war es aber auch nicht: hohe Mieten, Krieg, Ausbeutung, Rebellion gegen die Eltern – das alles bleibt auch heute noch aktuell. Und natürlich: die Liebe.

Nach mehreren Zugaben endet das Konzert mit „Junimond“. Die Musiker müssen jetzt wirklich was rauchen, erklärt Nikel. Wer nicht? Wir laufen noch mal rüber zum Mariannenplatz. Für einen Moment bin ich angesteckt von der Naivität, dem Glauben, dass es sie geben kann: eine bessere Welt ohne Kapitalisten und Polizisten. Wir werden wohl heute nicht mehr kaputt machen, was uns kaputt macht. Aber ich habe jedenfalls ein bisschen das bekommen, was ich suchte: das kurzfristige Gefühl, dass das wirklich alles stimmen könnte, was wir mitgegrölt haben. Dass die Häuser wirklich uns gehören, wenn wir uns nur zusammentun, und dass vielleicht irgendwann kein Sturm mehr aufkommt, wenn ich dich seh’.