Allein im Weltraum

Beim „Festival Theaterformen“ in Braunschweig soll Anderssein in kreative Energie verwandelt werden. Dazu gibt es gute Konzepte, die in der Praxis nicht immer funktionieren

Spielarten des Andersseins: bei den Theaterformen auch im Weltraum Foto: Matthew Pountney

Von Jens Fischer

Der Name ist das halbe Programm: Das „Festival Theaterformen“ will mit internationalen Gastspielen die ästhetischen Möglichkeiten der Bühnenkunst grenzenlos austesten und reflektieren. Der zweite Programm-Input lautet für Festivalleiterin Anna Mülter: Barrieren abbauen, vor allem für Menschen mit Behinderung. Dafür wurde jetzt in Braunschweig ein eigener Veranstaltungsreigen initiiert. Behinderung soll nicht mit Defizit gleichgesetzt, sondern das Anderssein in kreative Energie verwandelt werden, um interaktiv eine Zukunft zu denken, die „alle Formen von Körpern, Denken und Erfahrungen einschließt“, so der Werbetext. Klappt das?

Hinein ins Staatstheater, in den altehrwürdigen Louis-Spohr-Saal, den die englische Performerin Jess Thom mit einem ­bilderbuch-naiven Raumschiffdesign unkenntlich gemacht hat. Abgekapselt wie in einem solchen Gefährt fühlte sich die Künstlerin während der Coronazeit. Weil sie das Tourette-Syndrom hat, also zur Risikogruppe gehört, lebte sie fast zwei Jahre isoliert zu Hause und fantasierte, wie eine Astronautin auf einer intergalaktischen Tour in eine bessere Welt zu gleiten.

Dazu sind nun auch die Be­su­che­r:in­nen geladen. Ausgehändigt wird ein Malbuch, in dem etwa Tasten auf ein vorgedrucktes Schaltpult zu zeichnen sind. Man kann einen Raumanzug basteln oder einen Regenschirm hochhalten und sich vorstellen, das sei eine fliegende Untertasse. Der Soundtrack dazu lässt sich an einem Computer mixen – aus R2-D2-Piepen, spacigem Rauschen, SF-Film-Klängen, Störgeräuschen und Pianogesäusel. Da kommt kurz der Gedanke auf, dass dies ein Mitmachangebot für eine sehr, sehr junge Zielgruppe sein muss.

Im Foyer des 2. Ranges hat sich der brasilianische Künstler Edu O. ausgetobt. „Ihr Zweibeiner macht mich fertig“ steht auf einer Fahne. Der Schreiber scheint aber nicht nur fertig, sondern auch wütend gewesen zu sein. Jedenfalls liegen viele umgeschmissene Möbel und Papierbahnen herum, Kindergeburtstags-Tüdel ist verstreut. Leere Sektflaschen schmücken wie Überreste einer ausgeuferten Party die Räume. Zum Spielen liegen Schnüre aus, die Menschen mit und ohne Behinderung zu einem Netz und sich dabei miteinander verknoten können. Macht aber kaum eine:r. Die dahingehauene Installation wirkt auch eher aus- statt einladend. In der Bar des 2. Ranges wird den enttäuschenden Erfahrungen mit Stretching begegnet: Eine Animateurin leitet in Halbschlafdiktion Entspannungsübungen an. Ob die konzeptionell hübschen Angebote sozialer Begegnung in künstlerisch gestalteten Räumen noch genutzt wurden? Solange ich vor Ort war, blieb das ästhetische Potenzial inklusiver Bühnenarbeit nur Theorie.

Sie fantasierte,

wie eine Astronautin

auf einer intergalaktischen

Tour in eine bessere

Welt zu gleiten

Überzeugend aber zwei klassische Festivalproduktionen. Mit Ovids „Metamorphosen“ erzählt die chilenische Regisseurin Manuela Infante die Welt-, Mensch- und Zivilisations-­Werdung als Geschichte endloser Gewalt gegen Frauen. Die Schöpfungs- und Verwandlungsmythen strotzen ja vor toxischer Männlichkeit, die nicht nur sexuelle Unterwerfung einfordert. Die Inszenierung ist überzeugend schlicht. Immer neu arrangierte Mikrofonständer genügen als Bühnenbild. Nie ist deutlich, wer der drei Darstelle­r:in­nen gerade spricht – was häufig bauchrednerisch geschieht. Die Stimme erklingt dann live verzerrt über Lautsprecher. Die Mimen agieren dazu, ihre Rolle andeutend, im Playbackverfahren. Andere Textpassagen sind ausschließlich an der Bühnenrückwand zu lesen. Die Sprache ist so nicht Medium individuellen Ausdrucks, sondern ein unabhängiges dramatisches Element, das durch alle Figuren und Handlungen fließt, aufgeputscht von elektronischen Klanglandschaften. Ein Sprechtheater-Klang-Poem vom Feinsten.

„Radio Ghost“ der Londoner Künstlergruppe ZU-UK ist ein per Smartphone geführter Audiowalk ins Herz der grell erleuchteten Shopping-Finsternis. Zu stumpfen Beats und 80er-Jahre-Popsongs werden Dreiergruppen in ein Einkaufzentrum geführt. „Schau dir all die Schätze an“, sagt die Einflüsterstimme, „diesen Zauber müsst ihr brechen“. Wenn Werbung zugespielt wird oder das Shop-Personal einen anspricht, sollen wir das Handy so lange schütteln, bis die Manipulationsversuche aufhören. Zur direkten Konfrontation erhalten wir zuerst den Auftrag: Düfte kaufen.

Ein Laden dafür ist schnell gefunden. Dank der ihm entquellenden Geruchswolke all der Wässerchen, die Körpergerüche bekriegen sollen, umrankt von Schönheits- und Sexyness-­Versprechen. Schon hebt im Hörbuch – nicht pädagogisch besserwisserisch, sondern anregend freundlich – die Rede an von Menschen und Natur ausbeutenden Produktionsbedingungen, fragwürdigen Inhaltsstoffen, klimaschädlichen Transportwegen; all die Geister hinter der Hochglanzwelt, ihr wahrer Preis. Auch wenn wir all das ahnen oder wissen: Direkt beim Shopping-­Erlebnis das Bewusstsein angeknipst zu bekommen, ist ein überzeugend kunstpolitischer Ansatz. Schnell wächst der Wunsch, dass „Radio Ghost“ allen Mall-Besucher:innen auf die Ohren gegeben wird.