Tagebücher von Jules Renard: Niemals aufrichtig sein
Sagt Jules Renard der Gegenwart noch etwas? Seine Tagebücher bieten rätselhafte Geistesblitze. Nun sind sie in einer Auswahl neu erschienen.
Wenn Ambrose Bierce das Führen eines Tagebuchs in seinem „Wörterbuch des Teufels“ gewohnt spöttisch als „Tägliche Aufzeichnung jener Teile eines Lebens, die man sich selbst ohne zu erröten anvertrauen kann“ definiert, könnte Jules Renard ihm vermutlich beipflichten. Zumindest notiert er in seinem Tagebuch am 21. November 1906: „Ich bin nicht aufrichtig, und ich bin es auch dann nicht, wenn ich behaupte, es nicht zu sein.“
Allerdings handelt es sich bei Renards Tagebüchern weder um eine konventionelle Chronik, in der festgehalten wird, was der Tag einem so zuträgt, noch um literarische, auf Öffentlichkeit zugeschnittene Prosa à la Max Frisch, durchaus aber um Konfessionen, deren Verfasser mit sich ringt, das heißt gerade mit jenen Teilen des Lebens, die erröten machen.
Immer wieder hadert der erfolgreiche und renommierte französische Schriftsteller mit seiner notorischen Faulheit, seiner Sehnsucht, allein zu sein, oder dem Zustand seiner Ehe: Wenn er seine Gattin (deren wohlhabender Herkunft er seine ökonomische Unabhängigkeit verdankte) refrainartig als die einzige echte Liebe seines Lebens hinstellt, wirkt das fast wie die Beschwörung eines Wunschdenkens.
Im Übrigen gibt es gelegentlich so etwas wie Szenetratsch, kleine Porträts zeitgenössischer Prominenz: Rodin, die Brüder Goncourt, die bewunderte Sarah Bernhardt, Toulouse-Lautrec, dazu manche, die uns Heutigen nicht mehr viel sagen.
Jules Renard: „Nicht so laut, bitte!“ Tagebuch 1887–1910. Aus dem Französischen von Liselotte Ronte. Nachwort von Hanns Grössel. Kampa Verlag, Zürich 2022, 416 Seiten, 28 Euro
Sagt uns Renard noch etwas? Hinterlassen hat der 1864 geborene und 1910 jung verstorbene Autor Theaterstücke, kurze Prosa, ein paar Romane. Einer, der autobiografische Kindheitsroman „Poil de Carotte“ („Rotfuchs“), war in Frankreich bis in die 1960er Jahre Schullektüre.
Originalmanuskripte verbrannt
Renard, der sich neben der Schriftstellerei kommunalpolitisch engagierte, unter andrem als Bürgermeister seines neben Paris zweiten Wohnorts Chitry-les-Mines in Burgund, gehört zu den Figuren, die mit etwas überdauern, das ihnen eigentlich nicht sehr wichtig war, in diesem Fall den Tagebüchern beziehungsweise dem, was von ihnen geblieben ist. Denn, wie es immer mal vorzukommen pflegt, Renards Witwe hat die Originalmanuskripte verbrannt, Henri Bachelin als erster Herausgeber des Journals hat das, was übrigblieb, stark redigiert.
Die Frage, wie ursprünglich das ist, was uns heute als Renards Diarium vorliegt, wird sich wohl nie beantworten lassen. Es ist immerhin sehr viel: Fünf Bände umfasst die zwischen 1925 und 1927 veröffentlichte französische Originalausgabe, die deutsche Auswahl, die in der vorliegenden Form bereits 1986 erschienen und nun, versehen mit angemessen abgründigen Illustrationen von Nikolaus Heidelbach, erfreulicherweise wieder aufgelegt worden ist, bietet nur ein homöopathisches Kondensat: minimal, aber hoch konzentriert.
Denn das, was den Charme dieser „Tagebücher“ ausmacht, ist nicht das vorhandene Tagebuchhafte, eher muss man die Notate mit anderem vergleichen, etwa mit Lichtenbergs berühmten „Sudelbüchern“: „Wie hat es Ihnen in dieser Gesellschaft gefallen? Antwort: Sehr wohl, beinah so sehr als auf meiner Kammer“, heißt es dort, „In Gesellschaft die eigene Langeweile mit jener der anderen multiplizieren“, bei Renard, der diese Gesellschaft unbarmherzig beobachtete und beschrieb.
Reinheit der Seele
Renard war ein linksbürgerlicher Moralist, „skrupulös bis zum Zwanghaften, bis zur Selbstquälerei“ (Hannes Grössel). Seinen Idealen „Reinheit der Seele“ und „Reinheit des Stils“ konnten weder seine Umwelt noch er selbst gerecht werden, als Ventil blieb nur Ironie: „Immer noch sarkastisch. Drei Schritte auf die Straße, und ich werde unerträglich. Zum Glück gehe ich nicht oft aus.“ Es ist ein Sarkasmus, der dem des Ambrose Bierce ebenbürtig ist: „Unsere Güte, das ist unsere Bosheit, die schläft“, schreibt Renard misanthropisch.
Eine weitere sich anbietende Referenzgröße sind die sogenannten „Greguerías“ des spanischen Autors Ramón Gómez de la Serna, winzige Aperçus, die in einer poetischen Synthese Metapher und Definition vereinen: „Der Traum ist ein Depot für verlorene Gegenstände“, heißt es da. Oder: „Das T ist der Hammer des Alphabets.“
In dieser heiklen Disziplin übt sich auch Renard, gelegentlichen Platitüden („Wenn man auf nichts mehr zählen kann, muss man mit allem rechnen“) steht eine Fülle rätselhafter Geistesblitze gegenüber: „Sich die Hände reiben wie eine Fliege“; „Für die Kinder Jagdgeschichten aufschreiben, die ein Hase erzählt“; „Vielleicht gibt es Zweige, auf denen sich noch nie ein Vogel niedergelassen hat“.
Erstaunliches Lesevergnügen
So schnurrt es über die Seiten, Jahr um Jahr, beginnend 1887, endend wenige Wochen vor seinem Tod am 22. Mai 1910. Die Qualitätsdichte ist erstaunlich, das Lektürevergnügen entsprechend. Mit seinen Aphorismen hat sich Renard, ohne davon etwas ahnen zu können, geschweige denn, es beabsichtigt zu haben, große Bewunderung erschrieben: Sartre, Beckett, André Gide, Julian Barnes bekannten sich als begeisterte Leser.
„Ist das ein süßer Mann! Dieses Tagebuch ist himmlisch. Von dem, was er so hingekritzelt hat, könnten andere Leute leben“, schwärmte Kurt Tucholsky, der seinerseits ein „Sudelbuch“ hinterlassen hat, in dem er zum Beispiel, Arno Schmidts „Kühe in Halbtrauer“ vorwegnehmend, notierte: „Wasser in Halbtrauer (schlechte Suppe).“ Nun ja. Oder hat er da vielleicht Renard kopiert, bei dem zu lesen ist: „Der Rabe: Er kommt vom Begräbnis zurück. Die Elster trägt Halbtrauer.“
„Literaturkritik: nur Neuauflagen besprechen“, empfiehlt Jules Renard. In seinem Fall eine sinnvolle Anregung: seine Tagebücher sind ein Haus- und Lesebuch für (fast) alle Lebenslagen. Man kann davon eine ganze Weile leben.
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