„Pflegen heißt trösten, helfen, reden“

Wie solidarisch eine Gesellschaft ist, erkennt man auch daran, wie sie mit ihren Alten und Kranken umgeht. Pfle­ge­r:in­nen haben keine Zeit für sie, sagt Fachkräftelehrerin Anja Strümpfler

Historische Aufnahme aus einem Krankenhaus um 1900 mit idealem Betreuungsverhältnis Foto: Teutopress/imago

Interview Jutta Wüst

taz: Frau Strümpfler, mit 18 Jahren haben Sie Ihre Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin begonnen. Wie lange haben Sie anschließend in dem Beruf gearbeitet?

Anja Strümpfler: 12 Jahre. Zu meiner Zeit, ich habe die Ausbildung 2004 abgeschlossen, waren die Ausbildungsbedingungen noch ideal, ich rede gerne vom Ponyhof. Alles war entspannter, es gab genug Personal. Wir hatten genug Zeit für die PatientInnen, die Zusammenarbeit mit den ÄrztInnen verlief gut. Ich habe später dann das Abitur nachgeholt, um Lehrerin für Pflegeberufe zu werden, und den Master in Health Profession Education absolviert.

Heute bilden Sie selbst Pflegekräfte aus.

Ja, ich liebe meinen Beruf. Für mich ist er eine Art Berufung. Aber der Anspruch auf gute Pflege, den wir als Lehrkräfte vermitteln, unterscheidet sich sehr von dem, was Schü­le­rIn­nen in der Praxis erleben. Es gibt eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis.

Was heißt das konkret?

Es gibt keine Zeit, um Gelerntes umzusetzen und überhaupt um sich den Patienten zu widmen, zum Beispiel in Beratungsgesprächen. Der Wendepunkt war vermutlich das Jahr 2003, als die Fallpauschalen (DRG) eingeführt wurden, die die Tagespauschalen ersetzt haben.

Was hat sich seither verändert?

Es gab Kürzungen im Gesundheitswesen, Krankenhäuser wurden geschlossen, und ganze Jahrgänge von Pflegefachkräften wurden damals nicht übernommen. Sie und auch die aus geschlossenen Krankenhäusern entlassenen Pflegefachkräfte wurden dadurch arbeitslos und gingen teilweise ins Ausland. Es gab ein Überangebot an Pflegepersonal. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass so eine Konkurrenzsituation um freie Stellen entstanden ist.

Wie schätzen Sie die Situation der Pflege heute ansonsten ein?

Wir haben einen massiven Pflegenotstand. Zu wenig Personal, zu hohe Fluktuation. Ständiger Bezugspersonenwechsel. Einrichtungen, die Menschen versorgen, arbeiten zunehmend mit Mietpflege. So kann keine Teamarbeit entstehen. Der Pflegesektor wird immer weiter privatisiert. Die Folgen des Pflegenotstandes bekommen schon die PflegefachkräfteschülerInnen zu spüren. Oftmals ersetzen sie das Pflegepersonal, ein Drittel der SchülerInnen bricht die Ausbildung aus genannten Gründen vorzeitig ab. Es gibt nicht genug Bewerbungen für die Pflegefachschulen. Es werden ganze Klassen mit Menschen aus anderen Ländern belegt. Ist es solidarisch, sie die Arbeit erledigen zu lassen, die für uns zu schwer, zu schlecht bezahlt und gesellschaftlich nicht anerkannt ist?

Also sind es vor allem ökonomische Faktoren, unter ­denen die Pflegearbeit leidet?

Auch der demografische Wandel, also dass die Menschen immer älter werden, in Verbindung mit der High-Tech-Medizin wirken sich auf die Arbeitssituation aus. Sie machen die Pflege noch aufwendiger und anspruchsvoller als ohnehin schon. Eine weitere wichtige Veränderung im Pflegebereich ist die sogenannte Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV). Sie legt fest, wie viele Patienten eine Pflegefachkraft höchstens betreuen darf.

Hilft diese Regelung, die Qualität der Pflege zu sichern?

Foto: privat

Anja Strümpfler39 Jahre, lebt in Berlin. Sie unterrichtet an der Akademie Waldfriede in Berlin angehende Pflegefachkräfte und arbeitet in der Fort- und Weiterbildung.

Im Prinzip ist sie eine sehr gute Idee. Aber in der Praxis führt sie dazu, dass bei nicht ausreichend Pflegekräften Sta­tio­nen geschlossen, Opera­tio­nen abgesagt werden und Einrichtungen in finanzielle Schwierigkeiten geraten.

Gäbe es mehr Pflegekräfte, wenn der Beruf besser bezahlt würde?

In der Ausbildung verdient man im ersten Jahr 1.200 und im dritten Jahr 1.380 Euro brutto. Bei den Mieten in Berlin ist das zu wenig. Später im Beruf bekommt man 3.600 Euro brutto plus Schichtzulagen als Gehalt. Wenn man Pflegekräfte besser bezahlen würde, würden sich viel mehr Menschen für den Beruf entscheiden. Ich schlage ein Einstiegsgehalt von 4.000 Euro vor. Ein weiterer Anreiz könnte sein, dass man Pflegenden einen früheren Renteneintritt gewährt.

Wie würden Sie gute Pflegearbeit definieren?

Pflegen heißt trösten, helfen, reden, unterstützen und dafür unendliche Dankbarkeit bekommen. Und nicht nur das Bedienen eines Beatmungsgeräts auf einer Intensivstation kurz vor dem drohenden Burn-out.