WIENER KAFFEEHAUS
: In der Leichenhalle

Schön, ja sogar sehr schön, wäre das gewesen

An der Leichenhalle steht jetzt, dass sie eine Kapelle ist. Es wird also nicht mehr gestorben, sondern gebetet. Das habe ich Gott sei Dank! hinter mir, also das mit dem Beten meine ich, und zwar gründlich, denn wer einmal mit dem Entertainer Gottschalk zusammen ministriert hat, ist für immer geheilt. Nicht jeder hat das durchmachen müssen, und vielleicht deshalb ist die Gläubischkeit hier weiter verbreitet, als man denkt, wenn man die ganzen jungen, aufgeklärten Mütter und Väter sieht. Aber dann steckt mir Nadja, dass die Leichenhalle gar keine Kapelle ist, was meine ganze schöne Einleitung kaputt macht, sondern für „Events“ gemietet werden kann. Auch nicht schön.

Schön, ja sogar sehr schön wäre es gewesen, wenn aus der Leichenhalle ein Wiener Kaffeehaus geworden wäre. Auch einen Namen hätte ich schon gehabt: „Dora Brilliant“, die russische Sozialrevolutionärin, die vor über hundert Jahren einen Innenminister und einen Großfürsten hops gehen ließ. Es wäre der perfekte Ort gewesen, der den morbiden und melancholischen Kaffeehauscharme vom Anfang des letzten Jahrhunderts ausgestrahlt hätte. Allerdings hätte man dann auch österreichische Kellner aus dem Wiener Prückl importieren müssen. Und nicht nur das, auch die dazu passenden Gäste hätte man importieren müssen. Denn die gibt es hier ja nicht. Die meisten fallen in die Kategorie der „Gscheerten“ und „Gstopften“, und auch wenn man nicht weiß, was das ist, will man Leute, die so genannt werden, nicht wirklich als Gäste. Okay, ein paar würde es schon geben. Mich zum Beispiel. Ich bin auch ganz still und raschle nur ein wenig mit der Zeitung. Oder der das Viertel immer wieder aufs Neue durchschreitende Zweimeterschriftsteller. Oder der schwarze Mann mit dem schwarzen Borsalino. Dann wird’s schon eng. Obwohl, mehr müssen es gar nicht sein.

KLAUS BITTERMANN