Radioaktive Zeitbombe aus Karlsruhe

Im Atommülllager Asse wächst die Gefahr einer Strahlenkatastrophe. Die Hälfte der 126.000 Fässer mit radioaktiven Abfällen in dem Stollen stammt aus dem früheren Kernforschungszentrum Karlsruhe. Der strahlende Müll in dem maroden Salzbergwerk soll geborgen werden, weil das Bergwerk durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse und einzustürzen droht. Das soll jetzt jedoch erst ab 2036 möglich sein. Allzuviel Zeit bleibt vermutlich nicht mehr. Bei der Lösung des Problems – so es überhaupt noch eine gibt – könnten die Karlsruher mithelfen, aber sie verweigern sich

von Meinrad Heck und Wilfried Voigt

Abgelehnt“, hatte ein Abteilungsleiter im Bundesamt für Strahlenschutz vergangenen November in einem lange geheim gehaltenen Memorandum „zu Risiken bei der Rückholung“ des radioaktiven Mülls aus der Asse noch notiert. Das Karlsruher Forschungszentrum hatte die Behandlung kontaminierter Lösungen aus dem maroden Bergwerk in Niedersachsen abgelehnt. Dabei waren die Vorgänger der heutigen Hightech-Forscher aus dem Badischen selbst ein erheblicher Teil des Problems. Sie haben ihren Atommüll nach Niedersachsen karren und im Bergwerk abkippen lassen. Nach außen hin als „Forschungsvorhaben“ verkauft (vgl. Kontext:Wochenzeitung vom 15. Oktober 2011), tatsächlich in der 1960er Jahren bereits als „Endlager“ von den Karlsruhern geplant. Die Geschichte der deutschen Kernkraft begann in jenen Jahren mit dieser Lüge.

Jetzt, bei der aktuellen Absage aus Karlsruhe, war es nicht einmal um die ganz, ganz große Nummer gegangen, sondern um zunächst noch lösbare „Entsorgungsengpässe“, die mit einem Faktencheck im maroden Bergwerk zusammenhängen. Die Experten des Bundesamtes für Strahlenschutz wollen und müssen prüfen, wie der gesamte schwach- und mittelaktive Müll und die errechneten knapp 29 Kilogramm Plutonium, die auf alle Fässer verteilt sind, wieder aus der Tiefe geholt werden können. Dazu bohren sie einzelne Einlagerungskammern an. Die dabei anfallenden kontaminierten Lösungen sollten in Karlsruhe behandelt werden – aber: „abgelehnt“. Warum, das konnten die Karlsruher auf Anfrage der Kontext:Wochenzeitung noch nicht mitteilen. Derzeit sei kein zuständiger Ansprechpartner für diese Entsorgungsfrage verfügbar, hieß es.

Solche Ablehnungen, aber auch gesetzliche Hürden und viel Bürokratie wirbeln den Asse-Schließungszeitplan gehörig durcheinander. Mehr noch: Die Experten des Bundesamtes für Strahlenschutz tendieren mittlerweile immer mehr dazu, „bereits jetzt alle fachlichen und kommunikativen Vorbereitungen für eine Aufgabe des Projektes Rückholung zu treffen“. Dabei ist für die verunsicherte und misstrauische Bevölkerung nahe des alten Bergwerkes diese Rückholung – und nur diese – die einzige Alternative und Möglichkeit, auch in Zukunft einigermaßen sicher leben zu können. Jetzt verzögert sich diese Bergung aller 126.000 Fässer womöglich bis ins Jahr 2036, wenn sie denn überhaupt noch möglich ist – oder jemals möglich war.

Salzmatsche schafft schwierige Bedingungen

Genau das bezweifelt Michael Sailer, Sprecher der Geschäftsführung des Öko-Instituts Darmstadt und Vorsitzender der Entsorgungskommission (ESK), auf eine Anfrage der Kontext:Wochenzeitung hin. Nach den Zahlen dieser Kommission müssten aus dem Bergwerk 393.000 Kubikmeter radioaktiver Müll herausgeholt werden. Laut Sailer handelt es sich um „Matsche, kontaminiertes Salz und irgendwelche Reste und Fässer“. Das „unkonditionierte Zeug“ müsste nach der Bergung „erst mal spezifiziert und gemessen“ werden. Sailer sagt, es „müsste eine neue Konditionierungsanlage an der Asse gebaut werden.“ Denn diese Salzmatsche schaffe sehr schwierige Bedingungen. Besonders problematisch sei die „unabdingbare notwendige Trocknung“ der Pampe. Dabei komme es vor allem darauf an, „dass durch die dabei entstehenden Gase keine Radioaktivität nach außen dringt“.

Derzeit gebe es weder in Deutschland noch im europäischen Ausland eine Anlage, die in der Lage sei, diese Masse an Material zu bearbeiten. Die bestehenden Trocknungsanlagen seien viel „zu klein“. „Mit dem jetzigen Equipment“, sagt Sailer, „geht es nicht. Solange die radioaktiven Abfälle nicht konditioniert sind, wird auch ein Transport kaum möglich sein. Weder in Deutschland und erst recht nicht im Ausland.“ Karlsruhe scheide für die Bearbeitung des kompletten Abfalls aus. Dort seien über viele Jahre gerade mal rund 60.000 Kubikmeter bearbeitet worden, nun gehe es um fast die siebenfache Menge. Mit dieser Konditionierungsanlage aber steht und fällt laut Sailer das Sanierungskonzept für die Asse. Und genau dieses Problem sei „von der Politik bisher zu wenig beschrieben worden“.

Udo Dettmann, ein Mitglied des Vorstands der Bürgerinitiative „AufpASSEn“ erklärt dazu: „Ein Zwischenlager oder eine Konditionierungsanlage ist immer noch besser als ein Wassereinbruch in der Asse.“ Andererseits: „Wir tragen seit vierzig Jahren die Belastung. Eigentlich müssten jetzt auch andere ihren Beitrag leisten.“ Dennoch habe die Bürgerinitiative von Anfang an die Position vertreten, die Trocknung und Konditionierung sei enorm wichtig. Gleiches gelte auch für die Glaubwürdigkeit der Gegner. Sie wollten eben „nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip vorgehen“. Dettmann wird deutlich: „Betreiber und Bundesregierung sind Schisser“, sagt er. Sie hätten nicht den Mut, Klartext zu reden.

Der jetzt bekannt gewordene Zeitplan – er sieht den Abschluss der Bergung für das Jahr 2036 vor – sei „völlig inakzeptabel“. Auch unter demokratischen Gesichtspunkten. Dettmann: „Demokratie heißt: Die Mehrheit bestimmt. Aber die heutige Mehrheit kann morgen eine Minderheit sein. Und deshalb müssen Korrekturen möglich sein.“

„Bewusstes Warten auf das Absaufen“

Die bisherige Strategie der Betreiber und Politiker beschreibt Dettmann sehr lakonisch: „Es ist ein bewusstes Warten aufs Absaufen. Ein Spiel auf Zeit.“ Mit der Zielmarke 2036 wollten die Verantwortlichen nach seiner Einschätzung auch die Gegner spalten. Man habe offenbar darauf gesetzt, dass viele angesichts des langen Zeitraums aufgeben: „Man wollte den Widerstand knacken.“ Vom neuen CDU-Bundesumweltminister Peter Altmaier erwartet Dettmann nun klare Zeitvorgaben: „Er muss sagen, bis wann die Rückholung erfolgen soll.“ Der Christdemokrat müsse für eine neue Dynamik sorgen. Leichter gesagt als getan. Dettmann: „Beim zuständigen Personal hat sich nichts geändert, da ist alles beim Alten.“ Deshalb werde die Bürgerinitiative genau registrieren, was sich wirklich bewegt. Obwohl Altmaier bei seinem Besuch vergangenen Freitag in der Asse einen „positiven“ Eindruck hinterlassen habe, werde er „keine besondere Rücksicht“ genießen.

Das dramatische Szenario des so genannten „Absaufens“ war vor Jahrzehnten von der Politik nicht nur zu wenig, sondern anfangs gar nicht beschrieben worden. Salzstollen eignen sich, wenn überhaupt, als Endlagerstätte für Atommüll nur bei absoluter Trockenheit. Genau die war in der Asse nie gewährleistet, obwohl zu Beginn in den 1960er Jahren stets das Gegenteil behauptet worden war. Erst unlängst plauderte Volker Hauff (SPD), in den 1970er Jahren Forschungsminister im Kabinett Helmut Schmidts, in einem Interview aus dem Nähkästchen. Als es seinerzeit um die alles entscheidende Frage gegangen war, ob die Asse im Fachjargon „absaufen“ könnte, „ist mir und meinen Amtsvorgängern die Unwahrheit gesagt worden“. Was offiziell ausgeschlossen wurde, ist heute Realität. Täglich laufen 12.000 Liter Wasser in das einsturzgefährdete Bergwerk.

Gefälligkeitsgutachten in den Anfangsjahren

In den Anfangsjahren hatten sich jedoch Gutachter gefunden, die gegen gutes Honorar das Gegenteil bestätigten, im November 1965 zum Beispiel ein Bergassessor außer Diensten, dessen gutachterliches Ergebnis schon feststand, bevor er mit seiner Expertise überhaupt begonnen hatte. Er erklärte sich gegenüber der damals verantwortlichen Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) in München zum „gewünschten Gutachten“ bereit und betonte, er sehe „die Laugengefahr [einen Wassereinbruch, d. Red.] für nicht so groß an“. Er werde, so versprach der Mann, „durch meine in diesem Sinne abgefassten Ausführungen ein wenig dazu beitragen, die Bedenken […] etwas zu zerstreuen und der GSF den Alpdruck zu nehmen, sie hätte mit der Asse ein Laugenloch übernommen, das jeden Augenblick absaufen könnte“. Der Mann hatte seinerzeit 10.000 Mark Honorar erhalten.

Fast fünfzig Jahre später droht dieser „Alpdruck“ tatsächlich Realität zu werden. Die Asse ist durch jahrzehntelangen Salzabbau durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Die Hohlräume, in denen der Atommüll lagert, gefährden die Stabilität des Berges. Er droht einzustürzen. Immer mehr Bereiche müssen gesperrt werden. Ein unkontrollierter Wassereinbruch wäre der GAU. Salz löst sich in Wasser auf. Die Hohlräume würden noch größer, der Berg noch instabiler. Das Wasser, so beschrieb es ein unlängst veröffentlichtes Szenario der Bundesanstalt für Strahlenforschung (BfS), könnte radioaktiv verseucht werden und könnte in das Grundwasser und damit in die so genannte Biosphäre gelangen. Der Alptraum wäre wahr geworden.

Die Experten um Michael Sailer in der Entsorgungskommission (ESK) halten ein solches Szenario ausdrücklich für „nicht ausgeschlossen“. Wörtlich heißt es in einem Papier dieser Kommission Anfang 2012: „Aufgrund der Erkenntnis, dass die Durchführung einer Rückholung mehrere Jahrzehnte und nicht nur Jahre benötigt, verschärft sich die Notwendigkeit von Notfall- und Vorsorgemaßnahmen. Denn mit dem deutlich längeren Zeitraum erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines unbeherrschbaren Lösungszutritts während der Rückholung deutlich. Deshalb sollte nach Einschätzung der ESK bei der weiteren Planung die Umsetzung von Notfall- und Vorsorgemaßnahmen Priorität haben.“ Notfallmaßnahmen wie etwa die Verfüllung von Hohlräumen, die nicht mehr gebraucht werden, nur um den Einsturz so lange wie möglich zu verzögern.

Aber selbst für diesen Fall wählen die ESK-Experten durchaus drastische Worte. Nachdem klar ist, dass die Bergung des Asse-Atommülls nicht Jahre, sondern Jahrzehnte dauern wird, glaubt die Kommission, im Fall eines „unbeherrschbaren“ Wassereinbruchs könne der Schutz der Bevölkerung nur noch – so wörtlich – „möglichst weitgehend gewährleistet“ werden. Im Fall Asse geht es – nur – um schwach- und mittelaktiven Atommüll. Im Salzstock Gorleben, bis vor kurzem noch das einzige geplante Endlager für hochradioaktiven Atommüll, wurde in Sachen Wassereinbruch ähnlich getrickst.

1983 unter Kanzler Helmut Kohl hatte ein Referent des Bundesforschungsministeriums für eine Kabinettsvorlage ausgesprochen exakte Vorstellungen, wie dieselbe für den Standort Gorleben auszusehen habe. In einem geheimen Telex vom 13. Mai 1983, gesendet um 13:53 Uhr, schrieb der Mann: Die „wesentlichen Ergebnisse der Standorterkundung“ sollten „mit der Feststellung schließen“, dass die Eignung „des Salzstocks Gorleben für die Errichtung eines Endlagers substanziell untermauert werden konnte“. Und der Referent regte in dem Geheimpapier weiter an, „den vermutlich hypothetischen Störfall des Wasser und Laugenzutritts“ – so wörtlich – „etwas weiter vom Zentrum der Betrachtung wegzurücken“.

„Unter Inkaufnahme erhöhter Risiken“

Ganz ähnliche Tricks spielen aktuell im Gorleben-Untersuchungsausschuss des Bundestages eine Rolle. 1997 wollte sich die Regierung Kohl mit der SPD über das Endlager Gorleben verständigen. Seinerzeit herrschte die Überzeugung, dass eine Erkundung von Gorleben nicht möglich sei, ohne die Enteignung von Privatpersonen, in deren Hand die Salzrechte lagen. Der Schreiber eines geheimen Aktenvermerks aus dem Kohl’schen Kanzleramt befürchtete, dass eine solche Enteignungsvorschrift an der SPD im Bundesrat scheitern könnte. Die Sozialdemokraten, formulierte das Kanzleramt in einem Positionspapier, „hätten damit auf jeden Fall den Schlüssel in der Hand“ – was es zu verhindern galt.

Plötzlich waren Fachbehörden der damaligen Kohl-Regierung, zu der auch eine Umweltministerin namens Angela Merkel gehörte, der Meinung, dass eine Erkundung von Gorleben auch ohne Besitz jener strittigen Salzrechte möglich sein könnte, und zwar ausdrücklich – so wörtlich – „unter Inkaufnahme erhöhter Risiken“. Demnächst tagt der Ausschuss wieder und dann ist Bundeskanzlerin Angela Merkel als Zeugin geladen.