: Ein Mädchen verschwindet – der Rest ist Kopfkino
BEKLEMMUNG Megan Abbott lässt die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen: Der Coming-of-age-Roman „Das Ende der Unschuld“ operiert geschickt mit Andeutungen
Wer jemals in einem seiner alten Tagebücher geblättert hat, weiß, was das Wort Fremdschämen bedeutet. Die junge Version eines selbst scheint so weit entfernt zu sein, als wäre sie eine andere Person. Bei Coming-of-age-Romanen stellt sich oft ein ähnliches Gefühl ein. Weil sie peinlich sind. Weil sie Themen behandeln, die einen nicht mehr interessieren, weil man sie überwunden zu haben glaubt. Weil sie aus Erwachsenensicht erzählen, wie ein Jugendlicher denkt, was meistens genauso wenig funktioniert wie ein Lehrer, der seine Schüler kumpelhaft mit „Ey, Alter!“ anspricht.
Dass es auch anders geht, zeigt Megan Abbott in ihrem Psychothriller „Das Ende der Unschuld“. Unverkrampft schlüpft sie in die Rolle der dreizehnjährigen Lizzie, die einen im positiven und negativen Sinne aufregenden Sommer erlebt: Ihre beste Freundin Evie verschwindet und ist womöglich das Opfer eines Pädophilen geworden, außerdem schwärmt die Ich-Erzählerin für Evies Vater. Es geht um die erste Liebe, um Freundschaft, um das Erwachen der Sexualität, um Tabus, um Geheimnisse. Das wird ohne peinliche Untertöne erzählt, da Megan Abbott Gedanken oft nicht bis zum Ende ausformuliert. Stattdessen deutet sie an und lässt weg, was sich dann ungefähr so liest: „Lizzie liegt nachts wach, die Hände zwischen die Beine gesteckt.“ Punkt. Der Rest ist Kopfkino.
Und noch etwas gelingt der Autorin: Sie erschafft eine Atmosphäre zum Reinlegen, so dass man sich sofort in die Zeit zurückversetzt fühlt, als man noch sechs Wochen Sommerferien hatte und mit ausgebleichten Haaren und sonnenverbrannten Beinen auf dem Fahrrad herumfuhr und im See badete.
Gleich zu Anfang der Geschichte verschwindet Evie, und der Leser kommt nach und nach gemeinsam mit Lizzie ihrem Geheimnis auf die Spur. Evies siebzehnjährige Schwester Dusty hat mehr damit zu tun, als man zunächst glaubt. Wunderbar, wie detailliert Megan Abbott dieses scheinbar typische All-American-Girl beschreibt, das „Wimpern wie Goldfolie“ und „Augen in der Farbe von Wassermelonenschale“ hat und sich vor Verehrern kaum retten kann, aber sich gar nicht so richtig für sie interessiert. Bald glauben alle, dass Mr. Shaw, der ein paar Straßen weiter wohnt, Evie entführt hat – nur Lizzie hat ihre Zweifel. Ihre Freundschaft ist zwar nicht mehr so eng wie früher, wo sie alles geteilt haben – Tennissocken und Radiergummis, Zopfspangen und Winterstrumpfhosen, manchmal haben sie sogar im Gleichtakt geblinzelt –, aber Lizzie kennt Evie besser als jeder andere.
Und obwohl es auf den ersten Blick nicht so scheint, ähneln sich auch ihre Geschichten. Auf der einen Seite ist der Versicherungsvertreter und Familienvater Mr. Shaw, ein unauffälliger Mann mit Aktentasche und Krawattennadel, der sich in Evie verliebt hat. Auf der anderen Seite Evies Vater, ein junggebliebener, nach Muskatnuss riechender Lebemann, den Lizzy anhimmelt. Mann liebt Mädchen, Mädchen liebt Mann, und obwohl Welten zwischen den beiden Männern liegen, verschwimmen irgendwann die Grenzen zwischen Gut und Böse – und ein hochspannendes und beklemmendes Finale beginnt. FRANZISKA SEYBOLDT
■ Megan Abbott: „Das Ende der Unschuld“. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 288 Seiten, 17,99 Euro
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