Optimismus in der ostdeutschen Provinz: Der neue Bitterfelder Weg
Das Festival „Osten“ will auf Bitterfeld aufmerksam machen. Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass hier durchaus wieder Erfreuliches passiert.
Die Arbeitslosenquote liegt mit 6,4 Prozent im Kreis Bitterfeld-Wolfen auch über dem Bundesdurchschnitt von 4,9 Prozent. Sie ist aber auch signifikant niedriger als die Berliner Quote mit 8,5 Prozent. „Wir haben hier im Moment mehr Arbeit als Leute. Deshalb wird viel eingependelt“, sagt Patrice Heine, Geschäftsführer der Chemiepark GmbH, dem aktuellen Infrastrukturdienstleister auf dem Gelände des einstigen Chemiekombinats, zur taz.
Eine kleine Magnetwirkung hat die Region also bereits. Sie soll noch größer werden. „Es wird sich mehr Industrie ansiedeln. Gerade in den Bereichen Solar, Halbleiter und Batteriechemie werden wir ein rasantes Wachstum erleben, was sich auch im Bedarf an Arbeitsplätzen für Fachkräfte auswirken wird“, prognostiziert Heine. Sein Büro befindet sich ein paar hundert Meter vom Arbeitsamt entfernt. Kurze Wege im Chemiepark.
Kultur als Magnet
Noch ein paar hundert Meter weiter befindet sich ein weiterer Magnet, der gerade herausgeputzt wird. Eine ganze Tischlerwerkstatt hat sich neben dem Kulturpalast Bitterfeld unter freiem Himmel eingerichtet. Es wird gesägt, gefräst, gehobelt. Rote Holzplanken entstehen. Es wirkt ein wenig wie früher. Zwischen 1952 und 1954 errichteten etwa 5.000 Menschen in über 300.000 Stunden freiwilliger Arbeit den in sozialistischem Barock gestalteten Kulturpalast. Jetzt sind es viel weniger, sie arbeiten auch nur ein paar Wochen und bereiten das Gebäude für das am 1. Juli beginnende Festival „Osten“ vor.
Ein „Festival für Kunst und gegenseitiges Interesse“ sein will „Osten“, es findet vom 1. bis 17. Juli 2022 in Bitterfeld-Wolfen statt. Das Zentrum ist der Kulturpalast in Bitterfeld. Von hier aus erforscht und feiert das Festival den Osten als Landschaft der Veränderungen für Menschen, Natur und Zusammenleben. Programm: osten-festival.de.
Die roten Holzplanken werden sich dann, so verspricht es Aljoscha Begrich, zu einer riesigen Rampe verbinden, durch die der kolossale Bau auf eher ungewöhnliche Weise betreten werden kann.
„Der Parcours führt von hinten durch die Garderobe in das Gebäude. Man betritt es also nicht durch das imposante Eingangsportal. Die Rampe befährt man auch zu zweit mit einer Schubkarre“, erklärt der Bühnenbildner und Dramaturg, der früher unter anderem in Berlin bei Rimini Protokoll und dem Gorki Theater aktiv war, der taz.
Begrich sieht das als Reminiszenz an die einstige Aufbauarbeit und auch als Hinweis auf die Rolle als Kulturstätte von Werktätigen. Gemeinsam mit der Kulturmanagerin Christine Leyerle und dem Dramaturgen Ludwig Haugk begab er sich vor vier Jahren auf eine Reise zu einstigen DDR-Kulturhäusern.
„Anlass war die vorletzte Bundestagswahl, als die AfD erstmals ins Parlament eingezogen ist. Wir, die wir in der Berliner Künstlerblase arbeitend zwar tolle Projekte machten, dabei aber feststellten, dass man eigentlich immer nur den Menschen etwas erzählt, die schon der gleichen Meinung sind wie man selber, kamen dann auf die Idee, an Orte zu gehen, wo viel geschlossen wurde, und wollten einen Impuls dagegen setzen“, erzählt Leyerle.
Das Trio klapperte die einstigen DDR-Kulturhäuser ab. „In manche waren Sekten eingezogen, in andere Fitnessstudios. Manche, wie in Wolfen oder Leuna, waren noch auf“, erinnert sich Leyerle. Die letzte Station war Bitterfeld, das – nach dem längst abgerissenen Palast der Republik – größte aller ostdeutschen Kulturhäuser. „Auch das sollte damals abgerissen werden. Über Initiativen, die sich gegen den Abriss wehrten, kamen wir schließlich zu Matthias Goßler, dem jetzigen Eigentümer“, sagt Leyerle.
Goßler trug als Kind selbst Gedichte im Kulturpalast vor. Er hatte vor, das Gebäude zu einem Kultur- und Veranstaltungszentrum für die Region zu entwickeln. Die Vergangenheitsform muss man wählen, weil Goßler wenige Tage nach einem ersten kurzen Telefonat mit taz bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Es ist ein Schock für die Region, denn Goßler war ein Macher, organisierte unter anderem das Hafenfest am Goitzschesee, einem gefluteten früheren Tagebau am Rande Bitterfelds. Seine Firma war auch an früheren Ausgaben des Oldtimerfestivals „Classic Days“ auf dem Berliner Kurfürstendamm beteiligt. Goßler akquirierte zudem Bundesmittel für die Sanierung des Kulturpalasts.
Das Haus ist wieder offen
Den Festivalmacher*innen aus Berlin überließ er nach und nach das komplette Gebäude zur Bespielung. „Anfangs sollten wir im Außenbereich etwas machen. Jetzt gibt es wohl keinen Raum, den wir während des Festivals nicht nutzen“, sagt Begrich lachend.
Ausschlaggebend für das Vertrauen war auch ein Tag der offenen Tür, der im vergangenen Jahr 800 Neugierige zog. „Die Leute kamen ja nicht in erster Linie wegen unseres Programms, sondern weil sie sahen, dass das Haus wieder offen war, dass jemand von außen kam und sich für sie und ihre Geschichten interessiert, in einer Stadt, die unter dem Strukturwandel in Ostdeutschland so massiv gelitten hat“, meint Begrich.
Das kam auch gut beim Management des Chemieparks an. „Die Auftaktveranstaltung vor einem Jahr war großartig und auch großartig besucht. Wir wollen jetzt als Partner unseren Beitrag dazu leisten, dass das Festival einen guten Fußabdruck hinterlässt und auch überregional für Interesse sorgt. Geplant ist, über einen längeren Zeitraum hinaus etwas zu schaffen“, sagt Heine. Seine Firma steckte richtig Geld ins Festival, zweimal 40.000 Euro, damit überhaupt Fördergelder im Kulturbereich beantragt werden konnten.
Hintergrund ist die Hoffnung auf eine größere Attraktivität des Standorts. „Das war immer eine Region, in die zugezogen wurde. Um Menschen zu halten, muss man auch Freizeitmöglichkeiten schaffen. Gerade in dieser Gegend wurden Kunst und Kultur sehr hoch gehalten, selbst als es mehr von oben verordnet wurde“, meint Heine.
Natürlich, der Kulturpalast Bitterfeld ist untrennbar mit dem Bitterfelder Weg verbunden, jener Doktrin der DDR-Kulturpolitik, nach der Künstler*innen in Produktionsbetriebe geschickt oder als Zirkelleiter*innen für Kurse der schreibenden, spielenden und singenden Arbeiter*innen in den angeschlossenen Betriebskulturhäusern verpflichtet wurden. Das wurde oft als Strafversetzung begriffen. Der Kontakt mit der realen Industriearbeit führte teilweise aber auch zu kritischer Kunst, wie etwa zu Heiner Müllers sogenannten Produktionsstücken.
Effekte der Zirkelarbeit sind auch drei Jahrzehnte nach Mauerfall noch spürbar. „Die Leute hier sind extrem offen für partizipative Projekte, weil sie das eben von ihren Zirkeln her kennen“, hat Leyerle beobachtet. Ihr Kollege Begrich fasst es gar unter dem Begriff „Bitterfelder Weg 2.0“ zusammen, wenn im Rahmen des Festivals Schüler*innen der Musikschule Erwachsenen das Spielen eines Instruments beibringen und der New Yorker Komponist Ari Benjamin Meyers angepasst an die Kenntnisse und Lernfortschritte ein Musikstück für dieses neue „Werksorchester“ entwickelt.
Symbol für den Aufbruch
Mit mehr als drei Dutzend künstlerischen Interventionen wartet das Festival Osten auf. Es ist ein Symbol für einen Aufbruch. Denn rückblickend ist die Region vom Kahlschlag geprägt. Hier wurde vor knapp hundert Jahren zwar die Technologie des Farbfilms entwickelt – ein Kino sucht man in Bitterfeld und der Schwesterstadt Wolfen aber vergeblich.
Die strahlende Sonne über Bitterfeld kann man sogar als Verkünder einer neuen Zukunft im Solar Valley deuten. Im letzten Jahr eröffnete die Firma Meyer Burger hier ein Werk zur Fertigung von Solarzellen. „Fast alle Flächen im und um das ehemalige Solar Valley sind mittlerweile vergeben“, bilanziert Chemiepark-Manager Heine. Etwa 14.000 Menschen arbeiten in mehr als 300 Firmen auf dem 1.200 Hektar großen Areal schon jetzt. „Insgesamt dürften es bald wieder 20.000 sein, die in der Industrie zwischen Zörbig, Sandersdorf-Brehna und Bitterfeld beschäftigt sind“, meint Heine. Gut, zu DDR-Zeiten waren es 35.000. Aber die Jobmaschine brummt. Und Heine sieht es als Standortvorteil, dass hier die öffentliche Hand für die Entsorgung der Altlasten zuständig war.
Die Region befindet sich im Wandel, auf einem Bitterfelder Weg 2.0 in der Kultur wie auch in der Industrie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen