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Nicht einfach nur Privatsache

Zwei Bücher analysieren die Profite, die auf Kosten der Gesundheit gemacht werden

Wilfried Bommert/Christina Sartori: „Stille Killer. Wie Big Food unsere Gesundheit gefährdet“. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022, 240 Seiten, 20 Euro

Von Annette Jensen

Fast gleichzeitig sind zwei Bücher erschienen zum Thema Ernährungsindustrie. Beide setzen sich kritisch mit Nestlé & Co auseinander. Trotzdem doppeln sie sich nur wenig und vermitteln zusammen einen sehr guten Überblick, wie krank unser Ernährungssystem viele Menschen macht. Damit holen die Au­to­r*in­nen ein wichtiges Thema aus dem toten Winkel.

Wilfried Bommert und Christina Sartori beschreiben in „Stille Killer. Wie Big Food unsere Gesundheit gefährdet“ den Konzentrationsprozess in der Lebensmittelwirtschaft. Viele Convenience-Produkte enthalten große Mengen Zucker als billige Füllmasse. Vor allem Sirup aus Maisstärke behindert das Sättigungsgefühl. So nehmen viele Menschen durch hochverarbeitete Lebensmittel große Kalorienmengen zu sich. 40 Prozent der Weltbevölkerung sind inzwischen übergewichtig oder sogar adipös. Das bedeutet Leid für die Betroffenen und verursacht hohe volkswirtschaftliche Kosten.

Gerade in armen Weltregionen, wo viele Menschen im Kindesalter unterernährt sind, wirken sich solche Lebensmittel im Erwachsenenalter fatal aus. Bommert und Sartori beschreiben kenntnisreich und durch viele Quellen belegt, wie die Konzerne durch Werbung, Lobbyarbeit und gekaufte Wis­sen­schaft­le­r*in­nen ihren Umsatz weiter erhöht haben. Dass es Möglichkeiten gibt, politisch gegenzuhalten, zeigt Chile: Dort gibt es strenge Werbebeschränkungen für Junkfood, ein Verkaufsverbot für zuckerhaltige Softdrinks an Kinder, und auch aus den Schulküchen wurden Fertigprodukte verbannt.

Dass es Möglich­keiten gibt, politisch gegenzuhalten, zeigt Chile

In Deutschland dagegen verhinderte Ex-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner alle verbindlichen Vorgaben. Am Schluss gibt das Buch Hinweise auf Veränderungsmöglichkeiten auf allen Ebenen. In München hilft ein Projekt übergewichtigen Kindern, Nein zum Schokoriegel zu sagen. Um den Konzernen auf juristischer, politischer und gesellschaftlicher Ebene beizukommen, empfiehlt das Autorenduo, die ­Erfahrungen im Umgang mit der Tabak­industrie zu nutzen.

Martin Rückers Werk „Ihr macht uns krank. Die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby“ legt den Fokus auf konkrete Lebensbereiche. Der frühere Foodwatch-Geschäftsführer hat in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Schulen recherchiert, aber auch in Schlachthöfen und bei der Lebensmittelkontrolle. Vieles erscheint für den gesunden Menschenverstand absurd. So spielt Ernährung in der Medizinerausbildung keine Rolle, derweil es der Zucker- und Fast-Food-Industrie erlaubt ist, zahlreiche Professuren zu stiften. Auch die personellen Verflechtungen zwischen Verbänden, Politik und Industrie nimmt Rücker auseinander.

Obwohl ganz klar ist, dass die Hartz-IV-Sätze nicht für eine ausgewogene Ernährung reichen und mangelnder Bildungserfolg auch mit einer Fehlversorgung in entscheidenden Lebensphasen zu tun hat, gilt Essen als Frage der Eigenverantwortung.

Martin Rücker: „Ihr macht uns krank“. Econ Verlag, Berlin 2022, 336 Seiten, 22,99 Euro

Dass viele Po­li­ti­ke­r*in­nen und die Bild-Zeitung Essen zur Pri­vat­sache erklären – Stichwort Veggie-Tag –, kommt den Konzernen entgegen: Nicht die Wirtschaft erscheint als verantwortlich für die Verfettung der Bevölkerung, sondern die undiszi­pli­nierten Kon­su­men­t*in­nen, die sich einfach zu wenig bewegen. Und mit Diäten und Magenverkleinerungen lässt sich dann ja auch wieder gutes Geld verdienen.

Rücker macht am Ende Vorschläge, die sich wie Empfehlungen an die Ampelregierung lesen: Zuckersteuer, verbindliche Kennzeichnung der Produkte und die Einrichtung von Bürgerräten. Sein Fazit: „Ernährungspolitik muss gänzlich neu gedacht werden.“ Die beiden Bücher bieten dafür eine gute Grundlage.

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