crime scene: Formal außergewöhnlich: „Die Aosawa-Morde“
Ein rätselhafter Massenmord ereignet sich in den siebziger Jahren in einer japanischen Kleinstadt. Auf einer Geburtstagsparty bei einer angesehenen Familie sterben viele Menschen qualvoll, nachdem sie vergiftete Getränke zu sich genommen haben.
Das Verbrechen wird nie restlos aufgeklärt, obwohl der mutmaßliche Mörder bald ins Visier der Behörden gerät, ein junger Mann, der die Getränke geliefert hatte. Allerdings begeht er Selbstmord, bevor er befragt werden kann; und der ermittelnde Polizeibeamte glaubt ohnehin, dass das einzige überlebende Familienmitglied hinter der Tat stecken muss: ein erst zwölfjähriges, blindes Mädchen. Doch ihm fehlen jegliche Anhaltspunkte, die ihm helfen könnten, dieses Gefühl durch Beweise zu erhärten.
„Die Aosawa-Morde“ ist zweifellos der in formaler Hinsicht außergewöhnlichste Kriminalroman dieses Buchfrühjahrs. Statt das Rätsel jenes furchtbaren Verbrechens nach und nach aus Sicht des Ermittlers aufzudröseln, geht die Autorin Riku Onda einen anderen, philosophischeren Weg. Die narrative Struktur des Romans erinnert an Akira Kurosawas Film „Rashomon“, in dem ein und dieselbe Begebenheit nacheinander aus mehreren Perspektiven erzählt wird. Riku Onda erweitert dieses Prinzip, indem sie sowohl eine chronologische Abfolge einführt als auch unterschiedliche Textsorten verwendet.
Viele verschiedene Personen steuern ihre Sicht der Dinge bei, mal in direktem Erzähltext, mal vermittelt durch andere Textformen wie Interviewexzerpte, Zeitungsartikel oder Zitate. Nur aus dem einen Buch, das im Zentrum des Ganzen steht, wird nicht zitiert, obwohl seine Autorin Riku Ondas Roman mit einer Art Einführung eröffnet: Makiko Saiga, zur Zeit der Morde ein Kind von zehn Jahren, hat als junge Erwachsene einen Bestseller über die Morde geschrieben, die sie, gemeinsam mit ihren beiden Brüdern, fast hautnah miterleben musste. Als Nachbarskinder waren sie zu der Geburtstagsfeier eingeladen, sahen bei ihrer Ankunft aber nur noch Tote und Sterbende.
Riku Onda: „Die Aosawa-Morde“. Aus dem Japanischen von Nora Bartels. Atrium Verlag, Zürich 2022. 400 Seiten, 22 Euro
Drei Personen spielen im Roman eine größere Rolle als alle anderen und sind deshalb so etwas wie Hauptfiguren. Eine von ihnen ist eben jene Makiko, deren besondere Gabe darin besteht, sich durch genaue Beobachtung so sehr in andere Menschen hineinversetzen zu können, dass sie beinahe zu der betreffenden Person wird. Auch Makiko ist ihren Mitmenschen ein Rätsel, ähnlich wie die geheimnisvolle blinde Hisako, um die sich der gesamte Roman dreht – und das nicht nur, weil das Mädchen als einzige ihrer gesamten Familie das Giftmassaker überlebt hat, sondern auch, weil sie mehr noch als Makiko über seltene Talente verfügt. Denn obwohl Hisako nichts sehen kann, nimmt sie ihre Umwelt weit genauer wahr als andere Menschen und scheint über geheime Kräfte zu verfügen, die niemand anders wirklich versteht.
Die dritte Hauptfigur, der polizeiliche Ermittler, ist als Person vergleichsweise geheimnislos, fällt jedoch insofern aus seiner beruflichen Rolle heraus, als er genau zu spüren meint, dass Hisako schuldig ist. Er pflegt allen von ihm Befragten selbstgefaltete Origami-Kraniche zu schenken, was aber auch nicht wirklich weiterhilft.
So legt sich, Erzählung für Erzählung, Perspektive für Perspektive, eine komplexe Mehrfachschicht von Beobachtungen, Wissen und Erkenntnissen um die Morde von damals. Das ist sehr großartig gemacht. So verdichtet sich zunehmend das Bild der Geschehnisse; doch erst wenn Makiko und Hisako drei Jahrzehnte später wieder aufeinandertreffen, scheint es möglich, durch alle Schichten hindurch den Kern des Ganzen zumindest aufscheinen zu sehen.
Ob das Rätsel damit als gelöst gelten kann, liegt aber selbst dann noch im Auge der Betrachterin.
Katharina Granzin
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