Vom Plüsch der Bordelle hinaus auf die Straße

Ein smaragdgrüner Highheel mit dem Kopf einer züngelnden Schlange: Das ist das Symbol von „Hydra“, dem ersten Verein, der sich für den Schutz und die Rechte von Sexarbeiterinnen einsetzte. Seit 25 Jahren kämpft Hydra mit Protest und Infos gegen falsche gesellschaftliche Clichés und echte Probleme

VON KATHRIN SCHRADER

Es ist das verbotene Zimmer der Märchen, das eine, das nie betreten werden darf. Hinter seiner Tür, so erzählten die Alten, lägen die Häute geschlachteter Katzen und Menschen. Wer auch nur einen Blick in den hohen Wandspiegel wage, verwandele sich selbst augenblicklich in ein Tier. Nur noch wenige Schritte bis zum Spiegel, vorbei an den Peitschen und Ketten. Den Boden bedeckt Leopardenfell. Da ist der Tisch, auf dem die Opfer gefesselt werden. Er glänzt dunkel im spärlichen Licht, das vom Thron der Herrscherin über Strafe und Vergebung herüber strahlt.

Karolin Leppert steht am Lichtschalter. Sie trägt ein Sommerkleid. Den Märchen hat sie nie geglaubt und ist doch viele Jahre auf der Seite der braven Mädchen geblieben, bevor sie sich in den verbotenen Raum wagte. „Prostitution existiert nicht nur wegen der Macht der Männer in der Gesellschaft“, sagt sie. „Zu allen Zeiten hat es Frauen gegeben, denen diese Arbeit Spaß macht.“

Sie war Außenhandelskauffrau, Finanzberaterin und arbeitete in der Marketingabteilung eines Rundfunksenders, bevor sie eines Tages im Jahr 1993 das Büro der Berliner Hurenorganisation Hydra aufsuchte, um sich über die Rechtslage selbstständiger Sexarbeiterinnen zu informieren. Anschließend eröffnete die Domina ihren eigenen Salon. Zwei Jahre später trat sie dem Verein bei.

Heute engagiert sie sich im Vorstand. Hydra – das Schild an der Toreinfahrt zeigt einen smaragdgrünen Highheel mit dem Kopf einer züngelnden Schlange. Der Legende nach ist die neunköpfige Schlange unbesiegbar. Schlägt man ihr ein Haupt ab, wachsen an dessen Stelle zwei nach.

Eine helle Kreuzberger Fabriketage. Der Verein hat seit seiner Gründung vor 25 Jahren die Probleme von Sexarbeiterinnen aus dem Plüsch der Bordelle auf die Straße und in die öffentliche Diskussion gebracht, Fragen der Gesundheitsprävention beispielsweise und die Forderung nach sozialer Absicherung. Von der Selbsthilfegruppe, gegründet von Prostituierten, Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, entwickelte sich der Verein zu einer professionellen Beratungsstelle.

Seit 2002 gibt es das Prostitutionsgesetz, nach dem Prostitution nicht mehr als sittenwidrig gilt. Das Gesetz ist maßgeblich auf das Engagement der Hydra-Frauen zurückzuführen. Sexarbeiterinnen haben jetzt Zugang zu den Sozialversicherungen. Sie können die Bezahlung ihrer Dienstleistungen gerichtlich einfordern. Wer eine exklusive, diskrete Atmosphäre in einem Bordell oder Club schafft und für gute hygienische Bedingungen sorgt, wird nicht mehr wegen „Förderung der Prostitution“ bestraft.

Die Hydra züngelt dennoch. Denn das gesetzliche Umfeld, das sind Ausländergesetz und Gaststättengesetz etc., müsse entsprechend nachgebessert werden, fordern die Frauen. Zu oft noch wird das Prostitutionsgesetz ausgehebelt. Nach wie vor gilt in den meisten Bundesländern die Sperrgebietsverordnung, die Prostituierte an den Rand der Städte drängt. Nach wie vor dürfen Prostituierte keine Werbung machen. Die Schlange hat noch einiges an Lobbyarbeit vor sich.

Als sie zehn Jahre alt war, erzählt Karolin Leppert, das war noch in der Adenauer-Zeit, sei das Gespräch beim sonntäglichen Kaffeetrinken manchmal auf die „leichten Mädchen“ gekommen. Dann hätten die Männer immer nur einen Mundwinkel zum Lächeln gehoben, als sei ihr Gesicht zweigeteilt wie ihr Urteil über diese Frauen. Sie habe sich schon damals gefragt, ob die Männer die tugendhafte Sparsamkeit ihrer Ehefrauen nicht nutzten, um ihr Geld zu den „leichten Mädchen“ zu bringen. Und immer wieder hatten die Erwachsenen sie gewarnt: Werde bloß nicht wie eine von DENEN! Die Domina habe damals noch ganz klein zusammengerollt in ihr geschlafen.

Das schiefe Grinsen der Familienväter bestimmt unverändert den gesellschaftlichen Blick auf die Prostitution. Und noch etwas ist geblieben, seit Hydra vor 25 Jahren gegründet wurde: Prostituierte sind meist weiblich, ihre Kunden bis auf wenige Ausnahmen männlich. Sozialarbeiterin Andrea Petsch kam gleich nach ihrem Studium zu Hydra. Das ist zwölf Jahre her. „Ich habe die Arbeit des Vereins immer bewundert.“ Ob eine Frau wie sie nicht lieber die Machtverhältnisse radikal ändern würde, statt an den Schwachstellen des Systems zu doktern? „Sehen Sie das Beispiel Schweden. In Schweden ist es seit einiger Zeit strafbar, eine Prostituierte zu kaufen. Bestraft wird also nicht die Sexarbeiterin, sondern der Freier. Das Gesetz hat zur Folge, dass sich die Szene völlig ins Dunkel zurückgezogen hat. Die Prostitution hat man aber nicht besiegt.“ Naheliegender also, die Spielregeln zu ändern, Prostitution nicht zu verdrängen und zu verbieten, sondern raus aus dem Sperrgebiet in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu rücken.

Prostitution schafft sich ihre eigenen Gesetze

Das Online-Angebot von Hydra gibt es in acht Sprachen, fast so viel, wie eine Hydra Köpfe hat. Überall, wo Prostituierte arbeiten, ist der Verein vor Ort, informiert und berät. In den Räumen von Hydra befindet sich eine umfangreiche Bibliothek zu allen Themen, die Prostitution berühren. Hydra hilft in Konfliktsituationen, unterstützt Ein- und Aussteigerinnen und provoziert immer wieder zum Hinschauen, zurzeit in einer Ausstellung „Von der Liebesdienerin zur Sexarbeiterin“ anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Vereins.

Prostitution kennt kein Sperrgebiet, nicht in Berlin, nicht bei Hydra, nirgendwo. Der Glaube an das Sperrgebiet ist so ignorant wie die Klischees von Anstand und Moral. „Ehe und Prostitution sehe ich als die zwei Seiten ein und derselben Medaille“, sagt Karolin Leppert. Sie war selbst viele Jahre verheiratet. „In der Ehe gibt es Lügen und Leid und Machtmissbrauch – und doch hält die Gesellschaft am Bild der glücklichen Ehe fest. Die Prostitution hat schöne Momente und sie werden häufig in der Literatur beschrieben. Und doch wird Prostitution immer wieder in eine Ecke mit Machtmissbrauch und Kriminalität gedrängt. Als wäre die Gesellschaft nur in der Lage zu sehen, was sie sehen will.“